Nachdem ich nun doch endlich über das von mir so lange gemiedene Thema „Frauenpriestertum“ geschrieben habe, „muss“ ich an dieser Stelle auch das Thema „Zölibat“ noch einmal aufwärmen.
Der Zölibat ist definiert als ein „standes“-bezogenes Ausschließen oder Verbieten der Ehe. Er meint damit rein vernünftig betrachtet „im ersten Schritt“ noch keinen Ausschluss von sexueller Aktivität. Die traditionelle christliche Moral knüpft allerdings, wie viele andere religiöse Morallehren auch, jegliche sexuelle Aktivität kategorisch an die Bedingung der Ehe; daher gehört die pauschal-totale Enthaltung von sexueller Aktivität aus traditionell christlicher Sicht letztlich eben doch zwingend zu den Konsequenzen der Zölibats-Idee.
Geschichtlich wurde der Zölibat in der katholischen Kirche erst zu einem vergleichsweise späten Zeitpunkt vom Mönchtum auf das gesamte Priestertum übertragen. Diese Ausweitung des Zölibatsanspruchs gehörte wesentlich zu den Inhalten der Gregorianischen Reform im späten elften Jahrhundert. Dabei wurden als Begründung für den „panmonachistischen“ Priesterzölibat sekundäre Rationalisierungen herangezogen. Zu den weniger offen geäußerten, tatsächlich jedoch bestimmenden Gründen für diesen Schritt gehörte das kirchenhoheitliche Bestreben, Vererbung von Kirchengut an die leiblichen Nachkommen eines Pfarrers zu verhindern, um die Kontrolle des Episkopats über den Kirchenbesitz und dessen (politisch) kapitalisierbare territoriale Ausdehnung zu gewährleisten. Zudem begann sich die wichtige Funktion für den diplomatischen Dienst, die den Mönchen als einem in Mitteleuropa nahezu exklusiven alphabetisierten Milieu verstärkt seit der Karolingerzeit zukam, im Laufe der tiefgreifenden soziokulturellen Umwälzungen des elften Jahrhunderts u.Z. – Wiederaufblühen der zuvor rund ein halbes Jahrtausend lang „kataleptisch“ gewesenen europäischen Stadtkultur mit Kaufleuten als Großbürgertum und Hochschulen als bürgerlich getragenen innovativen Bildungszentren – mehr und mehr auch auf den Weltpriesterstand, das Diözesanpriestertum auszudehnen. Als besonderer Vorteil der Mönchsdiplomatie hatte sich aber nicht zuletzt der Umstand erwiesen, dass Mönche nicht im Hinblick auf irgendwelche Familieninteressen erpressbar, korrumpierbar oder auf sonstige Weise unter Druck zu setzen sind, da sie solche „Privatinteressen“ nicht haben; deshalb sollte dieser Vorzug nun mittels Ausweitung des Zölibatsgesetzes systematisch auch auf die zunehmend als weltliche Funktionäre eingesetzten Diözesankleriker übertragen werden.
Als wesentliche Behinderung der Seelsorgetätigkeit hingegen hatte es die ersten tausend Jahre des Christentums hindurch kaum jemand empfunden, wenn die Gemeindepriester zumeist eine eigene Familie hatten. Das entsprechende Argument sollte seit dem Hochmittelalter also eher von den bereits genannten wahren Hauptgründen für die gregorianische Einführung des allgemeinen priesterlichen Pflichtzölibats ablenken, denen zweifellos der Geschmack anhaften muss, zu wenig eigentlich religiöser Art zu sein.
Zwar wurde der allgemeine Priesterzölibat bereits auf der etwas obskuren, wohl besser nicht überzubewertenden spanischen Regionalsynode von Elvira um 300 u.Z. gefordert – bezeichnenderweise aber setzte er sich danach noch lange nicht durch. Die Gründe, weshalb diese Klerus-Disziplin in Elvira gefordert wurde, scheinen allerdings tatsächlich mit dem tiefsten kulturgeschichtlichen Motiv der religiösen Sexualitäts-Aversion zu tun zu haben. Diese Aversion hängt mutmaßlich entscheidend damit zusammen, dass geschichtlich der Zeugungsakt immer in starkem Zusammenhang mit dem Tod gesehen wurde. Angesichts der enormen Kinder- und Kindbettsterblichkeit früherer Zeiten war dieser Zusammenhang auch noch weitaus offensichtlicher, weil viel alltags-präsenter, als er es heute ist. Geburt und Tod markieren aber „ur-semantisch“ das Zeitliche im Gegensatz zum Ewigen, mit welchem Gott klassisch assoziiert wird. Aus diesem Grund ist alles, was mit Geburt und Tod zu tun hat, im Verständnis des vorchristlichen priesterlichen Judentums und seines Tempels kultisch unrein. Der theologisch relevante Gegensatz hierbei lautet allerdings nicht „jüdisch versus christlich“, sondern „priesterlich versus deuteronomistisch“: Jesus war ein „ultra-konsequenter“ Deuteronomist, und der Deuteronomismus hat den priestertheologischen Unreinheitsgedanken für obsolet erklärt und verworfen – ganz klar übrigens bereits in den prophetischen Stimmen der vorchristlichen Bibel.
Die Entstehung des christlichen Monastizismus im alexandria-nahen Ägypten, im antiochia-nahen Syrien und in Palästina im dritten und vierten Jahrhundert u.Z. betonte gerade den deuteronomistischen Ursprung des Christentums in Opposition zur rasch einsetzenden „theologischen (Wieder-)Verpriesterlichung“ der frühen Kirche (und insbesondere nach der Konstantinischen Wende). Deswegen hatte die Etablierung des Zölibats im Zusammenhang mit der Entwicklung des christlichen Monastizismus also offenkundig ganz andere Hauptgründe als die einer „verbreiteten religiös-sexuellen Neurose“. Für einen Mönch ist die praktische Funktion des Zölibats nahezu selbsterklärend: Er nimmt den Zölibat nicht etwa „in Kauf, weil er Priester werden will“, sondern er entscheidet sich in erster Linie für den Zölibat als Lebensform. Lebt der Mönch in Gemeinschaft, so dient ihm seine Ehelosigkeit außerdem dazu, den effektiven Zusammenhalt der konventualen Gemeinschaft zu gewährleisten, damit diese nicht aus psychologischen Ursachen in kleinere, menschlich engere soziale Einheiten „nach innen zerfällt“; denn vor dieser Gefahr ist das Mönchtum aus leidvoller Erfahrung auf der Hut.
Es gibt in der Tat keinen objektiven Grund außer der nun ebenfalls bereits seit vielen Jahrhunderten bestehenden gregorianischen Tradition der Kirche, der plausibilisieren würde, weshalb die ursprünglich aus dezidiert mönchischer Perspektive entwickelten Erwägungen zum Zölibat für katholische Weltkleriker irgendeine zwingende Rolle spielen sollten oder müssten.
Noch besteht das „totale“ römische Zölibatsgesetz erst weniger lang, als es zuvor in der Kirche nicht existiert hat. Vom Jahr 30 u.Z. an gerechnet, wäre der historische „Break-Even-Point“ in knapp hundert Jahren erreicht. Symbolpolitisch könnte man vielleicht sagen, dass es den Katholiken in den nächsten hundert Jahren noch vergleichsweise leichter fallen dürfte, sich von ihrer überspannten aktuellen Version der Ehelosigkeits-Regel unter Verweis auf ein zeit-quantitatives Überwiegen der gegen sie zeugenden „Masse“ an früherer Tradition wieder zu verabschieden. Vielleicht sollte die Kirche bewusst diese psychologische Frist nutzen.