Im folgenden möchte ich noch einmal zum Thema Verschwörungsideologien zurückkehren, indem ich einen Flyer mit dem Titel „Wissen, was wirklich gespielt wird… – Krise, Corona und Verschwörungserzählungen“ kommentiere, den die Amadeu-Antonio-Stiftung dieses Jahr herausgebracht hat aus Anlass des deutlichen Zunehmens von Verschwörungsmythen, das durch die Covid-19-Pandemie genährt wurde. Das Impressum des Flyers gibt bekannt: „Eine Publikation des Projekts ‚No World Order. Handeln gegen Verschwörungsideologien‘ der Amadeu Antonio Stiftung“.
Der Flyer startet bei der Frage nach den Gründen dafür, dass manche Menschen eine bessere „Ambiguitätstoleranz“ haben als andere (S. 4). Er gibt darauf aber keine Antwort. Wenn Antworten für das sehr begrenzte mediale Format eines Flyers zu komplex ausfallen, dann sollte man sich fragen, ob es überhaupt Sinn hat, sie in einem Flyer aufzuwerfen. Das ist genau die Grundfrage, die sich bei der Lektüre des Flyers, über den wir hier sprechen, immer wieder stellen wird.
Ich möchte nicht verschweigen, dass ich persönlich eine ganz klare Antwort auf diese Frage sehe: Ich glaube, dass „Ambiguitätstoleranz“ ohne eine echte und ernsthafte spirituelle Reife überhaupt nicht möglich ist. Es gibt so etwas wie eine grundsätzliche neurotische Angst vor Geheimnissen als Folge des ent-spiritualisierenden Effekts der Aufklärung. In der Religion waren Geheimnisse etwas Heiliges – in der post-religiösen Kultur wird jede Art von Geheimnissen unweigerlich zu etwas per se Bedrohlichem. Ich predige keine Rückkehr zu mystifizierender Religiosität, aber ich meine, auch die neue, vergleichsweise säkularere Spiritualität, die unserer Zeit gemäß ist, muss trotzdem die uralte Aufgabe übernehmen, die (potenzielle) Heiligkeit von Geheimnissen wiederherzustellen. Andernfalls treibt der Mangel an Ambiguitätstoleranz viele Menschen nahezu unausweichlich in eine ursachenspezifische Form von wahnhafter seelischer Erkrankung, zu deren Symptomatik die Verschwörungsideologien zählen.
Der hier zu besprechende Flyer hat ein wenig die Tendenz, sich in einem Duktus etwas wohlfeiler Analysen zu ergehen, die in einem dem Stiftungszweck gegenüber ohnehin wohlwollenden Leser (wird es andere geben?) zumeist nicht mehr als einen recht niederschwelligen „Ja-genau“-Effekt auslösen, der strukturell im Grunde genau das Funktionsmuster jener bequemen mentalen Selbstbestätigungsschleifen verstärkt, deren sich auch Verschwörungsideologen vorrangig bedienen. Hier hätte man überlegen können, ganz bewusst einen formalen Unterschied zu machen, anstatt sich im Text ungefähr so verständnisinnig auszudrücken, wie eine psychologische Krisenintervention versuchen würde, ihren Patienten in seinem geistig-seelischen Zustand „abzuholen“, um ihn mit den Mitteln des Vertrauensaufbaus behutsam von diesem zu distanzieren. Ist das hier die richtige Strategie? Wer ist denn die Zielgruppe?
Die Autoren bezeichnen „Vernunft und Solidarität“ als die beiden hauptsächlichen der geistigen Krisendynamik zum Opfer zu fallen drohenden Güter (S. 6). Das ist eine personalisierende Formulierung, die wenig hilfreich ist. Niemand möchte sich Mangel an Vernunft und Solidarität vorwerfen lassen, auch Verschwörungsideologen nicht. Objektiver formuliert geht es darum, dass die interne Kommunikationsfähigkeit und die Funktionalität unserer Gesellschaft durch den Einfluss von Verschwörungsideologien beträchtlichen Schaden nehmen, wenn die Wahrheit nicht mehr ermittelt werden kann, weil seit langem etablierte pragmatische Kriterien für Wahrheitsfindung plötzlich nicht mehr akzeptiert werden sollen.
Es wird der Mechanismus der „Sündenbock“-Suche aufgezeigt. „Diese Personalisierung erzeugt Hass auf diejenigen, die für die ‚Gruppe Mächtiger‘ gehalten werden. In der Regel handelt es sich dabei um eine antisemitische Verschwörungserzählung, weil seit Jahrhunderten der Mythos einer ‚jüdischen Weltverschwörung‘ verbreitet wird. Antisemitische Texte, wie die ‚Protokolle der Weisen von Zion‘, bilden leider noch immer die Blaupause für moderne Verschwörungsideologien und -mythen. Es gibt stets Verschwörungsideolog*innen, die alles Böse ‚den Juden‘, der Familie Rothschild oder George Soros und ihrer angeblichen Verschwörung anhängen.“ (S. 7) Das deckt sich zwar mit meiner persönlichen Erfahrung aus eigenen Gesprächen. Es wäre aber wichtig, den „Roter-Faden“-Charakter des Antisemitismus hinter sämtlichen gängigen Verschwörungsideologien möglichst eingehend, konkret und detailliert zu beweisen, damit man es den Verschwörungsideologen nicht zu leicht macht, den „Spieß umzudrehen“ und diese „Pauschalisierung“, wie sie in dem Flyer formuliert wird, ihrerseits zu einem Teil der Verschwörung zu erklären. Dem Thema Antisemitismus widmet der Flyer abschließend sogar noch einmal einen besonders langen eigenen Abschnitt (S. 27-28). Dort wird zwischen die Familie Rothschild und George Soros auch noch der Name von Anetta Kahane eingefügt – der Vorsitzenden der Amadeu-Antonio-Stiftung. Das ist zwar nicht unverständlich und nicht unberechtigt, macht aber keinen guten Eindruck. Es spielt den Verschwörungsideologen allzu bequem den Ball zu, den Stiftungs-Flyer selbst wiederum als ein vorgebliches Zeichen für die politische Macht „der Juden“ zu missbrauchen. Ich hätte der Redaktion von der Disbalance abgeraten, den Aspekt des Antisemitismus so überaus stark in den Mittelpunkt zu rücken – trotz aller grundsätzlichen Schlüssigkeit, auf den beinahe konstitutiven Zusammenhang zwischen Verschwörungsideologien und Antisemitismus hinzuweisen.
Der Flyer merkt an, dass typische verschwörungsideologische „Erkenntnis“ nicht „gewonnen“, sondern „gesetzt“ und dann nur noch „bewiesen“ wird. Immer wieder geht er auf die Notwendigkeit von Selbstkritik, Ambiguitätstoleranz und Falsifizierbarkeit ein. Nur nützt eine solche Empfehlung demjenigen praktisch wenig, dem es aus psychologischen Gründen unerträglich ist, diese Haltungen einzunehmen; derjenige aber, der nicht von einer Verschwörungsideologie „abbekehrt“ werden muss, sondern Hilfe zum Argumentieren gegen die Verschwörungsideologien anderer sucht, wird mit Hinweisen in diese Richtung nicht viel anfangen können. Angesichts dessen bleibt am Ende der Einleitung nicht viel mehr übrig als der mäßig attraktive Nachhall eines schulmeisterlich belehrenden Tonfalls.
Im anschließenden Hauptteil wird sachlich gegen einzelne besonders populäre Verschwörungsmythen argumentiert, die ursächlich mit dem Coronavirus zusammenhängen oder mit diesem nachträglich eine Verbindung eingegangen sind. Grundsatztheoretisch besonders interessant ist dabei das Kapitel 6: „Die Rechtfertigung einer Pandemie ist menschenfeindlich“ (S. 20). Darin heißt es: „Wer die COVID-19 Pandemie als ‚Abwehrkampf der Natur‘ oder gar als ‚Rache Gottes‘ missdeutet, die*der zeigt sich menschlichem Leid gegenüber ignorant.“ Dann ist die Bibel also menschlichem Leid gegenüber ignorant – ich erwähne nur Exodus 32,35, Numeri 25,8-9 und in gewissem Sinne auch Numeri 21,4-9 als klare Beispiele für Seuchen als Strafe Gottes. Der Flyer liefert hier also abermals eine Unterkomplexität ab, in diesem Fall eine theologische, zu der man nur sagen kann: „Si tacuisses…“
Ganz „munter“ heißt es jedoch weiter: „Die Vorstellung von der Natur als einem ‚Wesen‘, das sich von den Menschen, wie von einem Virus, befreien muss, ist eine mystische Vorstellung. Diese Ideologie macht eine problematische Unterscheidung zwischen der reinen, vollkommenen, guten Natur und den bösen, lasterhaften Menschen. Die Natur wird dabei nicht als ein ökologisches Zusammenspiel unterschiedlicher Zellstrukturen begriffen, sondern als ein ‚Wesen‘. Für dieses ‚Wesen‘ wird wiederum mehr Mitgefühl aufgebracht als für Menschen, die Gefühle wie Angst oder Einsamkeit empfinden können. Einige religiöse Fanatiker*innen gehen sogar so weit, die Corona-Pandemie als Rache Gottes für Homosexualität und Feminismus zu deuten. Sie instrumentalisieren millionenfaches Leid zugunsten ihrer menschenfeindlichen Propaganda. Eine Pandemie ist eine schreckliche Katastrophe, die durch nichts gerechtfertigt werden kann und deren Opfer Empathie und Solidarität verdienen.“ Dieser Absatz ist in mehrerlei Hinsicht hochproblematisch. Zuvorderst, weil er extrem unterschiedliche Dinge in einen Topf wirft und höchst unsauber miteinander vermengt. Wenn sich die Sache in der gebotenen Kürze eines Flyers nicht angemessen darstellen lässt, hätte man sich entscheiden sollen, sie wegzulassen. In der vorliegenden Präsentation ist der Gegenstand jedenfalls in einer nicht akzeptablen Weise behandelt. Dass die Autoren sich vermutlich nicht im Klaren darüber sind, wovon sie reden, wenn sie den Terminus „Mystik“ gebrauchen, ist eine Sache – ein andere ist, dass echte Mystiker eigentlich ihre besten Verbündeten im Kampf gegen Verschwörungsideologen sind. Leider weiß man das in der Flyer-Abteilung der AAS nicht.
Die Ablehnung der Bewertung des Planeten Erde in seiner Gesamtheit als eines „Organismus“ ist ebensowenig streng wissenschaftlich haltbar wie die Behauptung des Gegenteils. Sich auf dieses argumentative Glatteis zu begeben, war eine ganz schlechte Idee. Und sehr viele Menschen, die über planetare Organismen gerne diskutieren würden, stehen in keinerlei Verbindung mit Homophobie und Antifeminismus.
Das Kapitel 7, „Wir können nicht immer alles unmittelbar verstehen“ (S. 22.), beginnt so: „Zu wissen, was man nicht weiß, ist der beste Teil des Wissens“ soll der chinesische Philosoph Laotse bereits im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung festgestellt haben.“ Ähm, auch der Grieche Sokrates hat das gesagt – nur wenig später, dafür aber historisch wesentlich besser belegbar als der sehr fiktiv anmutende Laotse, dem schon alle möglichen Aussprüche untergeschoben worden sind. (Achtung: große Laotse-Verschwörung??) Der Eindruck einer Verwurzelung der Flyer-Autoren in europäischen Bildungstraditionen verflüchtigt sich mehr und mehr, je länger man in ihrem Traktätchen liest. Das ist gewiss kein Hauptargument, aber auch nicht vorteilhaft.
Anknüpfend an die zusammenfassende Charakterisierung von Verschwörungsideologen mit dem Satz: „Alles, was mich verunsichert, ist Teil der Verschwörung“ (S. 23) wird im Schlussteil die Frage gestellt: „Was macht Menschen in der Krise so anfällig für Verschwörungsideologien?“ (S. 24) Der Flyer beantwortet diese Frage, indem er Verschwörungsideologien vier Funktionen zuschreibt: Erstens stifteten sie Sinn und Erkenntnis in der Unübersichtlichkeit. Zweitens lieferten sie „leicht anschlussfähige“ Identitätsangebote. Drittens wirkten sie manipulativ in Richtung einer Beruhigung, Bestätigung und Bestärkung angesichts von anderweitig nicht hinreichend Erklärlichem. Und viertens legitimierten sie bestimmtes Verhalten, bis hin zu extremer außergesetzlicher Gewaltanwendung, oder entschuldigten biografisches Scheitern als Reaktion auf die Bedrohung durch „die Verschwörer“. Ich persönlich kann hier allerdings keine vier verschiedenen Punkte erkennen, für mich sind das alles Aspekte desselben einen komplexen psycho-sozio-mentalen Funktionsmechanismus und „Programms“, der Verschwörungsideologen in genau derselben Weise kennzeichnet wie alle „Gnostiker“ im Sinne jener universellen Gnostizismus-Definition, die Eric Voegelin formuliert hat. Damit wird klar, dass Verschwörungsideologien lediglich die neueste Spielart der Gnosis als einer mentalitären Konstante der Menschheitsgeschichte (oder mindestens der abendländischen Geschichte) sind. (Auffällig ist übrigens, wie sehr die Argumente gegen die Einführung der Gurtpflicht den knapp 45 Jahre später vorgebrachten Argumenten gegen die Einführung der Maskenpflicht ähneln.)
Die spezielle Bedeutung der Pandemie für den Boom von Verschwörungsideologien erklärt der Flyer so: „COVID-19 hat etwas Unheimliches an sich. Es ist für das menschliche Auge unsichtbar, man kann es haben, ohne es zu merken, es kann aber auch tödlich sein und hat sich bereits über die gesamte Welt verteilt. Es kann nur durch Forschung und langwierige, restriktive Maßnahmen bekämpft werden. Verschwörungserzählungen, die diesem eher abstrakten Phänomen ein konkretes Gesicht geben, wirken entlastend. Denn all die negativen Gefühle, die pandemiebedingt aufkommen, können so in ein eindeutiges Feindbild ausgelagert und in diesem bekämpft werden.“ (S. 25) Entscheidend ist dabei aber das Bedürfnis zu kämpfen, das meines Erachtens noch viel stärker betont werden muss: Wer nie ein kultivierteres Instrumentarium an Verhaltens-Alternativen zur archaischen Stress-Optionen-Trias „Flucht oder Sich-tot-Stellen oder Kämpfen“ entwickelt hat und außerdem typbedingt zu denen gehört, die am liebsten mit „Kämpfen“ auf Herausforderungen antworten, der muss sich einen Feind beschaffen, der sinnlich-konkret bekämpfbar ist; komplexe über- oder außerpersonale Dynamiken wie beispielsweise ein abstrakter freier Markt oder eben auch ein Virus eignen sich dazu nicht. Das ist der eigentliche Grund, weshalb es irgendwo die kleine, fiese Gruppe der „All-Bösen“ geben „muss“.
Der Schüssel zur Eindämmung der gegenwärtigen Verschwörungsideologien-Pandemie liegt darin, dem postmodernen Menschen seine „über-aufgeklärte“ und dabei trotzdem eigentlich nur pseudo-aufgeklärte Angst vor Geheimnissen jeglicher Art zu nehmen. Den Typus des Verschwörungsideologen findet man z.B. auch in der Dürer-Interpretation (siehe insbesondere z.B. die Literatur zu den Gemälden „Selbstbildnis im Pelzrock“ oder dem Stich „Melencolia I“). Es besteht ja kein Zweifel, dass der bewusste Mystifizierungstrend der Renaissance solchen Spekulationen aktiv Vorschub leistet und dass die betreffenden Interpreten sich das Vorhandensein von Geheimnissen hier keineswegs bloß einbilden – dennoch erliegen sie hinsichtlich der „Authentizität“ und „Gewichtigkeit“ der Gründe dafür einer Täuschung, die entscheidend in ihrem eigenen Charakter verursacht wird, und nicht in dem von Albrecht Dürer und seinen Zeitgenossen. Verschwörungsideologen suchen den Unterschied zwischen wahr und falsch an einer Oberfläche der Dinge, unter die sie seelisch nicht zu dringen imstande sind; „unterhalb“ davon gibt es diesen Unterschied durchaus, das heißt, aus der Perspektive der Tiefe – die letztlich aber immer nur spirituell sein kann – erweisen sich die Oberflächen-Wahrheiten der Welt in der Tat zumeist als erheblich unwahr. Verschwörungsideologen nehmen in gewissem Sinne etwas grundlegend Zutreffendes wahr, nur interpretieren sie es mangels geeigneter geistig-seelischer Kompetenz auf eine gravierend unzutreffende Weise: Sie verkennen oder verleugnen die Diskrepanzen, die sie in sich selbst tragen, und projizieren diese stattdessen bis hin zur Wahnhaftigkeit nach außen.
Nur wer das erkannt hat, weiß, was wirklich gespielt wird.