Dass im Herbst der Memminger Stadtbach ausgefischt wird, um abgelassen und gereinigt werden zu können, hat sich über die Jahrhunderte zu einem großen, brauchtumsumrahmten Volksfest entwickelt. Es hat sich schon vor langer Zeit der „Fischertagsverein Memmingen e.V.“ gegründet, der das besucherreiche Ereignis seit hundert Jahren organisiert. Wie bei historischen Traditionen allgemein üblich, ist auch diese nicht geschlechtsneutral: Frauen dürfen bisher nicht ins Wasser.
Nachdem Diskussionen darüber ergebnislos blieben, klagte schließlich eine Memmingerin gegen ihre Diskriminierung und bekam im August 2020 vom Amtsgericht ihrer Stadt recht. In dieser Sache, in der in einer interessanten und dem Urteil nach in Deutschland erstmaligen Weise das Grundrecht der Gleichberechtigung gegen die Vereinsautonomie stand, argumentierte die Richterin mit drei Punkten:
Erstens mit der beträchlichen Außenwirkung der Veranstaltung, die eine soziale Machtstellung ihres Trägervereins in der Kommune begründe, weshalb der partielle Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen von bestimmten Vollzügen der betreffenden Veranstaltung bedenklich weitreichende politische Folgen habe, deren Handhabung man nicht allein der Vereinsautonomie überlassen könne.
Zweitens mit der steuerrechtlichen Begünstigung des gemeinnützigen Vereins, in dem aber die „passive“ und „zahlende“ sowie – was das konkrete Stadtbachfischen angeht – „kübelhalterische“ Mitgliedschaft auch Frauen schon seit langem offen steht.
Und drittens mit der nachweislichen Entwicklungsdynamik ideologisch für unverrückbar erklärter Traditionen; denn der Fischertagsverein hatte seine Statuten selbst bereits mehrfach erheblich verändert – bei einer Gelegenheit wurde zum Beispiel Männern mit nicht mehr aktuellem, sondern bloß noch ehemaligem Memminger Wohnsitz die aktive Teilnahme am Fischen ermöglicht, was zuvor nicht gestattet gewesen war.
Diese richterliche Argumentation ist offenkundig bewusst so angelegt, dass sie nach ihrer Übertragung auf andere vereinsrechtliche Fälle verlangt. Das macht die Memminger Causa so interessant und weithin relevant.
Richten wir aus diesem Zusammenhang heraus den Blick nun einmal auf die römisch-katholische Kirche. Auch dort dürfen Frauen bekanntlich nicht alles, was Männer dürfen.
Dass es zwischen einer Weltreligion und dem Memminger Stadtbachfischen gewisse Unterschiede geben könnte, ist auch mir nicht entgangen. Aber:
Es ist in Wahrheit gar nicht so leicht überzeugend zu entscheiden, wann eine Tradition „religiös“ begründet ist und wann nicht. Warum sollten dem uralten Identitätszeremoniell einer Kommune eigentlich nicht im weitesten Sinne religiöse Züge zuerkannt werden? Das ist zwar keineswegs meine persönliche Meinung – aber die wissenschaftliche Religionsgeschichte wird einer solchen Anerkennung eindeutig zuzustimmen haben.
Wenn nun ferner dem Standpunkt ultrakonservativer Katholiken stattzugeben wäre, dass sämtliche Gepflogenheiten ihrer Kirche unterschieds- und hierarchielos als zentrale Glaubenswahrheiten einzuordnen sind, dann dürfte sich säkulare Justiz konsequenterweise auch nicht in Probleme beispielsweise mit dem kirchlichen Arbeitsrecht einmischen. Was sie aber längst selbstbewusst tut – zurecht.
So gesehen kann keineswegs einfach als „selbstverständlich“ behauptet werden, dass der Männlichkeitsvorbehalt und Pflichtzölibat des katholischen Priestertums unmöglich gleichfalls in obigem Sinne auf den weltlichen Prüfstand gestellt werden könne, da diese Regelungen zutiefst spirituell begründet seien und direkt aus der Wurzel des christlichen Glaubens hervorgingen, weshalb dessen angemessene Bewahrung ihrerseits wiederum von der strikten Beibehaltung solcher äußerlicher Praxis abhänge.
Um dagegen einmal mit der Memminger Richterin zu argumentieren:
Die weltgesellschaftliche Außenwirkung des katholischen Priestertums ist immens und erfasst alle Gesellschaftsbereiche, auch rein weltliche, in denen karitative Einrichtungen der katholischen Kirche tätig sind.
Deutsche Katholikinnen zahlen ebenso wie deutsche katholische Männer Kirchensteuer an die steuerbegünstigte Körperschaft römisch-katholische Kirche.
Und dass die römisch-katholische Kirche ihre angeblich so monolithischen Traditionen immer wieder massiv verändert hat – zuletzt ganz besonders, wie aus Hubert Wolfs jüngstem Buch „Der Unfehlbare“ (2020) spektakulär hervorgeht, unter Pius IX. (1846-1878) mit seiner Dogmatisierung des Jurisdiktionsprimats und der Unfehlbarkeit des Papstes, die es zuvor nie gegeben hatte -, was dann lediglich stets der systematischen „Innovationsverschleierung“ (Michael Seewald) unterzogen wurde, ist im Licht neuerer wissenschaftlich-kirchengeschichtlicher Erkenntnisse völlig unleugbar.
Das alles sind freilich keine als eigentlich theologisch zu akzeptierenden Argumente – aber die soziale Situation ihrer Priester ist möglicherweise auch kein der katholischen Kirche zuzugestehender Ermessens-Gegenstand ihrer rein theologischen Eigenwahrheitssphäre, solange diese Priester ihr Leben nicht ausschließlich hermetisch unter Katholiken verbringen, die in Fragen der Priesterrolle alle zuverlässig gleichgeschaltet denken.
So sehr ich persönlich eine „Wir-wollen-endlich-auch-mal-dürfen“-Mentalität im Hinblick auf das Priestertum für spirituell verfehlt, weil unsäglich ego-inflationär halte (ohne damit den herkömmlichen römisch-katholischen Klerikern zu unterstellen, sie seien niemals egozentrisch motiviert), so sehr halte ich es doch für geboten, dass die römisch-katholische Amtskirche mit erheblich größerer Ernsthaftigkeit, als sie sie diesem Thema gegenüber bislang aufgebracht hat, über mögliche Konsequenzen aus dem Memminger Urteil nachdenkt.
Vielleicht wäre es nicht unklug, vorsorglich schon mal das Fach „Kübelhalten“ in die Lehrpläne der spärlich besuchten Priesterseminare mit aufzunehmen?