„Safe Abortion Day“?

Der 28. September hat sich in den letzten Jahren weltweit als Aktionstag für den Zugang zu sicherer und straffreier Abtreibung durchgesetzt. In diesem Zusammenhang erreichte mich diesmal bereits einige Tage zuvor per E-Mail die Aufforderung, eine entsprechende Online-Petition zu unterschreiben. Ich unterschreibe relativ viele der Petitionen, die mich auf diesem Wege erreichen. Diese habe ich allerdings nicht unterschrieben. Weil der Anlass konkret ist – ICH sollte etwas TUN -, merkte ich, dass das ein geeigneter Anlass war, einmal über das Problem der Abtreibung zu schreiben, was ich ohne einen irgendwie mich selbst angehenden Anlass eher nicht tun würde.

Die meisten Menschen fühlen sich beim Thema Abtreibung offensichtlich immer sofort zu äußerst grundsätzlichen Stellungnahmen aufgerufen. Das ist verständlich. Bei allen bioethischen Fragen, die den Anfang und das Ende des Lebens betreffen, wird der Mangel unseres sicheren rationalen Wissens über das, was jenseits der Grenzen des Lebens liegt, besonders schmerzhaft, weil existenziell orientierungsbehindernd, und „schreit“ deshalb nach ideologischen Positionsklärungen. Gerade deshalb aber scheint mir Vorsicht und Zurückhaltung mit entsprechenden Kundgebungen geboten zu sein.

Christen werden in dieser Angelegenheit regelmäßig mit einer Position des radikalen Lebensschutzes identifiziert und identifizieren sich tatsächlich vielfach selbst bewusst damit. An dieser Stelle möchte ich mit meinem kritischen Hinterfragen beginnen, mit dem ich beide Seiten der üblichen Debatte gleichermaßen in den Blick nehmen werde.

Muss man die Äußerungen Jesu in den Evangelien etwa so verstehen, dass im Christentum die Absolutsetzung der Bedeutung der individuellen Lebensform – „ich“, „du“ – keine Grenze kennt? Hat Jesus dem Einzelnen verkündet: „Du, in deiner Ichhaftigkeit, bist das Wichtigste, was es gibt auf der Welt?“ Ich kann mich nicht erinnern, je einen qualifizierten Theologen gehört zu haben, der das Evangelium so auslegte.

Fragen wir einmal so: Behindern wir Gott in seinem Schöpferwirken, wenn wir mitverschulden – so unerfreulich das zweifellos in jedem Fall ist -, dass eine bestimmte individuelle Lebensform den biologischen Prozess des In-der-Welt-Seins schon wieder beendet, kaum dass er sich angebahnt hat? Die Annahme, dass seine Geschöpfe Gott behindern, ist im Monotheismus grundsätzlich nicht möglich. Er hat auf der Erde eine Menge Spezies geschaffen, bei denen regulär jeweils nur eines aus Hunderten, Tausenden oder gar Millionen (so genau kenne ich mich da nicht aus) von befruchteten Eiern zur Reife gelangt. Natürlich ist die Spezies Mensch durch eine andere Fortpflanzungsstrategie charakterisiert. Aber ein bisschen mehr „biologische“ Relativierung als bisher üblich ist grundsätzlich auch im Christentum theologisch gut begründet vorstellbar, ohne dass es sich dabei gleich um eine „biologistische“ Relativierung handeln muss.

Entscheidend kommt zu diesem Gedanken hinzu: Wir sprechen bei Abtreibung ja von Fällen, in denen kein psychisches Interesse der Eltern, vor allem der Mutter, an dem Kind besteht. Das ist in sich der nächste wesentliche Argumentationspunkt: Welchen menschlich erkennbaren Sinn hat denn das Leben eines Kindes in der irdischen Welt, wenn es nicht in ein Minimum an Geborgenheit durch elterliche Liebe hineingeboren wird und daher einem absehbar düsteren seelischen Schicksal entgegengeht? Was tun wir, wenn wir über einer abstrakt-theologischen „Beanwaltung Gottes“ diese sehr praktisch-reale triste Seite eines Daseins ignorieren, das von Müttern gesetzeserzwungenermaßen ausgetragen wird, die lieber abtreiben würden?

Nun kommen wir aber zur anderen Seite.

Wann immer ich von Aktivistinnen (und Aktivisten) für „sexuelle Selbstbestimmung“ höre und lese, habe ich das Gefühl, dass es sich bei diesen Menschen um sehr große Egozentriker handelt. Sexualität hängt aber nun mal ihrem biologischen Ursprung nach entscheidend mit Fortpflanzung zusammen, und Fortpflanzung bedeutet ganz grundlegend immer das genaue Gegenprinzip zur Egozentrik – sie bedeutet ihrem ganzen Wesen nach ein Herausgezwungenwerden aus den nur-eigenen, nur-ichhaften Maßstäben. Auch ich bin der Meinung, dass Sexualität neben ihrem Fortpflanzungszweck noch einen selbständigen Mehr-Sinn trägt, einen Sinn für die Liebe. Aber der besteht nicht darin und wird nicht darin erfüllt, angesichts eines Wegfalls der engen biologischen Zwänge der „Brutpflege“ wieder in ungehemmte Egozentrik zurückzufallen; sondern auch und gerade der selbständige „reine Liebes-Sinn“ der Sexualität (der wegen seiner Abkoppelung von der Fortpflanzung auch homosexuell gelebt werden kann) erfüllt sich nur in einem liebevollen Blick auf den Anderen, der in seiner Totalität der Liebe über den selbstbezüglichen Horizont bloßen sexuellen Verlangens und Lustbefriedigens kategorisch weit hinausgeht. Der konstitutive anti-egozentrische Effekt der stimmig gelebten Sexualität hat seinen Ursprung also in den natürlichen Gesamtzusammenhängen der Fortpflanzung, reicht aber über diesen ursprünglichen Kontext hinaus auch in all jene kulturellen Bereiche der körperlichen Liebe hinein, in denen es nicht um Fortpflanzung geht. Egozentrische Interessen sind nie das richtige und wahre Ziel.

Auf der anderen Seite pflegen religiös fundamentalistische radikale Abtreibungsgegner indirekt ebenfalls einen Egozentrismus, nämlich sozusagen einen Egozentrismus „by proxy“ – um mich hier in der Namensgebung einmal an das „Münchhausen-by-proxy“-Syndrom anzulehnen -, der sozusagen schon dem Fötus oder gar schon dem Embryo ichhafte Lebensinteressen unterstellt. Da wir den Überlebenswillen eines Fötus aber objektiv schlicht nicht beurteilen können, muss auch die geistige Grundlage der abtreibungsgegnerischen Position mit erheblicher Skepsis betrachtet werden angesichts einer Gesamtheit der uns umgebenden „Natur“, in der, wie wir oben bereits festgestellt haben, eindeutig das „Luxurieren“ mit individuellem Leben und insbesondere mit dessen Frühstadien an der Tagesordnung ist.

Aus alledem kann nur folgen: Wir müssen beim Thema Abtreibung zwei gegenläufige Interessen sehr behutsam miteinander vereinbaren: einerseits den Schutz des Lebens, und andererseits das Ermöglichen von Abtreibung in einigen bestimmten Fällen. Wie macht man das aber ganz praktisch nun am besten?

Ein empfehlenswertes methodisches Prinzip in dieser Sache ist, immer möglichst eng bei konkreten Einzelfragen zu bleiben und diese fallweise zu entscheiden. Je echter ein ethisches Thema wirklich ein ethisches Thema ist, desto weniger lässt es sich sinnvoll auf der Basis von Pauschalgrundsätzen klären und regeln. Diese Feststellung ist freilich für viele schon mal die erste schwer zu schluckende Pille. Angesichts ernsthafter ethischer Probleme drängt alles in uns nach hehren moralischen Prinzipien – aber die Wahrheit ist, diese helfen nicht, und wir entwickeln uns an solchen ethischen Problemen überhaupt nur dann ernsthaft geistig und charakterlich weiter, wenn wir vom naiven Drang zu simplizistischer Prinzipienreiterei bewusst Abstand nehmen.

Wie aber muss sich diese Forderung nach bekennendem „Kasuismus“ in punkto Abtreiben zu Rechtsbedingungen verhalten, die Kasuismus gar nicht zulassen, weil sie Abtreibung von vornherein stigmatisieren? Sollte man unter solchen Umständen zuerst einmal plakativ das diametrale Gegenteil dessen fordern, was die restriktiven Rechtssetzungen verlangen, um auf eine sehr laute Weise Öffentlichkeit zu schaffen für das Ungenügen oder gar die Ungerechtigkeit des bestehenden Rechts?

Vielleicht – und diese Antwort meine ich hier in dem Sinne, dass ein solches Vorgehen vielleicht tatsächlich realistisch dem unüberwindbar auf Polarisierungen beruhenden pendelnden Muster der Dynamik entspricht, nach der sich menschliche Gesellschaften weiterentwickeln – auf eine Weise, die dem Geistesmenschen nicht sehr intelligent vorkommt, aber die den Eindruck einer beharrlichen harten Realität erweckt, mit der man leben lernen muss, anstatt mit ihr zu hadern.

Was dennoch nicht bedeutet, dass ich aus bloßen taktischen Erwägungen heraus entsprechend polarisierende Petitionen unterschreiben muss, wenn ich an den Sinn der Polarisierung persönlich nicht glaube und das einzig erstrebenswerte Ziel vielmehr darin erkenne, in den Einzelfällen zu sehr behutsamen situativen Kompromissen zu gelangen.

Die Petition, die mir vorgelegt wurde, forderte ausdrücklich, es dürfe keinerlei Verpflichtung für Schwangere mit Abtreibungswunsch geben, an einer Schwangerenkonfliktberatung teilzunehmen. Das geht mir viel zu weit. In der Verpflichtung zum Sich-Beraten-Lassen vor einer Abtreibung sehe ich die verfahrensethisch notwendige Einforderung einer Verantwortlichkeit gegenüber dem Ganzen der Situation, einschließlich der Frage des zu schützenden Lebens, die nicht ignoriert werden darf.

In der scharfen Ablehnung der Beratungspflicht äußert sich in meinen Augen wieder die maßlose Egozentrik der Aktivisten für „sexuelle Selbstbestimmung“, die in mangelndem Realismus verkennt, dass ohne ein organisiertes gesellschaftliches Herantragen von Einsichtsimpulsen an den Einzelnen keine menschliche Gesellschaft akzeptabel funktionieren würde. Wäre es nicht so, hätte beispielsweise die ganze Schulpflicht keinen Sinn. In diese Richtung will ich die Debatte hier freilich nicht ausweiten. Aber wenn wir beispielhaft an eine sehr junge Frau denken, die schwanger geworden ist, weil sie charakterlich nicht dazu neigt, sich über ihr Leben sonderlich viel Gedanken zu machen, deren familiärer Hintergrund vielleicht nicht sehr bildungsaffin ist und die daher nicht sehr viel über ihre Situation und deren vielfältige Implikationen „weiß“, und die noch dazu unter dem körperlichen, hormonellen, psychischen, sozialen, organisatorischen und geistigen Stress ihrer ersten Schwangerschaft steht, dann ist es vollkommen realitätsfern zu behaupten, diese Person könne „selbstverständlich“ allein, ohne jede Hilfe, qualitativ gute und sichere Beurteilungen und Entscheidungen über ihre Zukunft und mithin über ihre Schwangerschaft treffen.

Gewiss mag man vielleicht die Befürchtung äußern, Personen, die sich dafür interessieren, entsprechende Schwangerenberatung berufsmäßig anzubieten, werden dazu durch ganz bestimmte weltanschauliche Positionen motiviert sein, die entweder im einen oder im anderen Extrem des Spektrums an grundsätzlichen Meinungen zur Abtreibung liegen. Darauf lässt sich aber nur antworten, dass die Welt weder perfekt noch perfektionierbar ist und dass wir nur das Möglichste tun können, das die Anstrengung der Vernunft uns jeweils als wahr und richtig und empfehlenswert erkennbar macht.

Was hiermit, wie ich hoffe, hinreichend skizziert sein möge.

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