Wie überaus kritisch der katholische Priester Hubert Wolf in seinem aufrüttelnden Buch „Der Unfehlbare“ (2020) die „Erfindung des Katholizismus im neunzehnten Jahrhundert“ – so der Untertitel – darstellt, lässt für mich nur einen Schluss zu: Gegenwartspraktisch möchte der Autor mit diesem Buch einen Beitrag leisten zur Vorbereitung der deutschen Katholiken auf eine neuerliche relative Ablösung von Rom. Als führender deutscher Kirchenhistoriker weiß Wolf detailreich belegt zu schildern, dass die katholische Kirche vor der Französischen Revolution nie so sehr vom Papsttum abhängig war wie seit Pius IX. (1846-1878), dessen Schilderung aus Wolfs kompetenter und sachlicher Feder bisweilen wahrlich sprachlos macht. Auch wenn der populäre Münsteraner Professor die Zustände im katholischen Deutschland vor 1803 beileibe nicht insgesamt als vorbildlich darstellt, wird doch deutlich, dass er im Zurückgehen hinter die geradezu dreiste „invention of tradition“ des Ultramontanismus im neunzehnten Jahrhundert, hin zu einer – freilich wohldurchdachten – postmodernen Quasi-Wiederbelebung oder relativen Wiederbelebung des älteren „bunt-katholischen“ Pluralismus der vormodernen „Germania Sacra“, eine durchaus mögliche aktuelle Strategie gegen die große Not katholischer Christen im heutigen Deutschland erkennt: die Not nämlich, dass vom Vatikan aus, indem man sich dort unbeirrt pauschal auf „den Rest der Welt“ beruft, die katholische Kirche in Deutschland in den gesellschaftlichen Untergang gerissen und gezwungen wird – eine profilierte Teilkirche, die, wie Wolf überzeugend zeigen kann, nicht erst seit fünfzig, sondern schon seit mindestens hundertfünfzig Jahren in vielerlei Hinsicht zu großen Teilen geistig deutlich offener eingestellt ist als fast im gesamten „Rest der Welt“ und in der die Anwendung starrer römischer Prinzipienvorgaben mittlerweile völlig anachronistisch und praktisch unmöglich geworden ist. Hubert Wolf führt seinen Leserinnen und Lesern ermutigend vor Augen, dass dieser Untergang nicht sein muss: Es besteht eine tiefe geistige Legitimität, sich als nördlich der Alpen inkulturierte Katholiken dieser römischen Zumutung zu entziehen, die längst aufgehört hat, irgendeinen Sinn zu ergeben.