Die „Post-Evangelikalen“ existieren so gut wie nur im Internet – aber dort machen ihre Beiträge ein starkes und wachsendes Segment aller christlichen Sinn-Angebote aus.
Um zu verstehen, was ein „Post-Evangelikaler“ ist, muss man natürlich zuerst einmal verstehen, was ein „Evangelikaler“ ist.
Der britische Historiker David W. Bebbington hat 1989 die viergliedrige Standard-Definition dessen geschaffen, was „evangelikal“ bedeutet: Die maßgeblichen Kennzeichen lauten ihm zufolge „Biblicism, Crucicentrism, Conversionism, Activism“.
Das Problem an dieser evangelikalen Programmatik ist folgendes: „Biblizismus“, der den Umgang mit der Bibel bedingungslos zur geistlichen Praxis und damit implizit für nicht kritisierbar erklärt, negiert im Endeffekt eo ipso immer die Deutungs-Erfordernis der Bibel und die Notwendigkeit von Theologie. Natürlich finden es viele Menschen für sich persönlich zu anspruchsvoll, dem Theologie-Treiben die Qualität einer spirituellen Praxis zuzuschreiben; aber tatsächlich hat es vergleichsweise sehr viel mehr Sinn, im Theologie-Treiben eine spirituelle Praxis zu erkennen, als in einer untheologischen, unkritischen Bibellektüre, die regelmäßig gefährliche, von allem gefährlich naive weltanschauliche Folgen zeitigt.
„Christozentrismus“ ist, provokant gesagt, nicht „trinitarisch“, weil er vernachlässigt, Gott in den beiden anderen Personen der Trinität zu begegnen: Wenn ich Gott nur als dem Erlöser begegne, ohne ihm zugleich (und zuvor) auch als dem Schöpfer – dem „mütterlichen Vater“ (die Gender-Debatte soll hier für den Augenblick nicht geführt werden) – zu begegnen, dann finde ich keinen tragfähigen Zugang zum christlichen Heils-Universalismus, keinen echten Zugang zum spirituellen Nondualismus und keinen sinnvollen Zugang zur Schöpfungsethik. Und wenn ich Gott nicht auch als dem Heiligen Geist begegne, dann kann ich meinen Glauben nicht dynamisch mit dem jeweiligen So-Sein der sich wandelnden Welt vereinbaren, sodass es zu religiösen Erstarrungen kommt, die dann wiederum von der „Welt“ in einer Weise „bestraft“ werden, welche den Evangelikalen fast unvermeidlich am Gottgeschaffen-Sein der Welt de facto zunehmend zweifeln lassen muss, auch wenn er das nicht „darf“. Diese geistigen Verirrungs-Gefahren zeigen, wozu wir die Trinität eigentlich „brauchen“, und weshalb christlicher Glaube nicht „christozentrisch“ werden darf in einer Weise, die das „Trinitarische“ deklassiert.
„Bekehrungs-Zentriertheit“ verhält sich ausgeprägt post-traditionell, anti-traditionell und individualistisch. Solcher religiöser Individualismus führt zu einer Frömmigkeits-Egozentrik, die fast zwangsläufig ausgesprochen „gefühlig“, „affektiert“ und „schwärmerisch“ wird, manchmal bis hin zur extremen Übertreibung, mit welcher aber das interkulturell gültige spirituelle Universal-Ziel kaum zu erreichen ist, das gut mit der aus dem Zen stammenden nüchternen Formel umschrieben werden kann: „Nicht-Denken, Nicht-Zwei, Nicht-Ich“. Es ließe sich leicht zeigen, dass auch Jesus mit dieser Aufforderung völlig konform geht – wer mir diesen Nachweis detailliert abverlangt, dem liefere ich ihn gerne an anderer, gesonderter Stelle nach.
Der programmatische evangelikale „Aktivismus“ schließlich engt ein, auf welche Weisen sich Christsein in dieser Welt äußern kann und „darf“; diese Engführung verstärkt gefährliche ideologische Tendenzen. Ein vorbildlicher katholischer Christ zum Beispiel ist dankbar für die Existenz des Kartäuser-Ordens, weil dieser radikal infrage stellt, auf welche Weise wir Menschen eigentlich in der Welt „wirken“ können (wenn doch im Grunde sowieso alles „Gnade“ ist). Diese Infragestellung ist es, die wir so dringend benötigen, um nicht auf ideologische Abwege zu geraten. Hinzu kommt, dass „Aktivismus“ sich beinahe zwingend gemeinschaftsbasiert verwirklicht. Dadurch rückt die Gemeinschaft in „aktivistischen“ Kirchen in den Vordergrund auf eine Weise, die den Individualismus ausgerechnet dort rigoros beschneidet, wo er sich doch einigermaßen zurecht sollte äußern dürfen, nämlich in der „religiösen Geselligkeit“: Damit der fromme Verbund ein schlagkräftiges aktivistisches Werkzeug sei, ist der Gruppendruck hoch, Fragen und Zweifel werden entsprechend ungern oder gar nicht zugelassen – ganz zu schweigen von Spannungen und Brüchen in der persönlichen Umsetzung der anspruchsvollen doktrinären Gruppen-Moral, wodurch immer wieder tragische Fälle von Doppelmoral getriggert werden. Evangelikale Gemeinden erschweren ihren Mitgliedern infolgedessen Flexibilität und Authentizität und bieten gelinde gesagt wenig echten Raum für persönliches Scheitern. Dieses soziale Syndrom kann faktisch – wenn auch gewiss nicht absichtlich – bis an die Grenze der „internen Unbarmherzigkeit“ gehen.
Meine Kritikpunkte sind also klar und deutlich; so klar und deutlich, dass ich mich gewiss zunächst zu meinem ganz persönlichen Hintergrund bei dieser Kritik erklären muss und mich nicht bloß hinter „Objektivität“ verstecken darf – so sehr ich mich auch in der Tat um Objektivität bemühe und mich von allen hemmungslosen Giftschleuderern im Internet dadurch abgrenzen möchte. Trotz all des nicht ohne Schärfe Gesagten sind „die Evangelikalen“ in keiner Weise meine „Feinde“, sondern Mitmenschen, denen meine volle Nächstenliebe gilt, sowie darüberhinaus sogar Mitchristen, über deren Eintreten für die christliche Botschaft in der Welt ich mich zunächst einmal freue. Dieser Freude gegenüber sind und bleiben meine Einwände gegen manche Aspekte ihrer Anschauungen, auch die teils gravierenden Einwände, von sekundärer Wertigkeit. (Wenn einige US-evangelikale Gruppierungen „White Suprematism“, Migrantenfeindlichkeit, Patriarchat, Kapitalismus-Verherrlichung, republikanischen Waffenkult, Kriegsbefürwortung, Klimawandel-Leugnung, Pandemie-Zynismus und sonstigen Sozialdarwinismus beziehungsweise Spencerismus betreiben, was für Christen wirklich inakzeptabel ist, so handelt es sich dabei nicht um ein für den weltweiten Evangelikalismus repräsentatives Phänomen.)
Ich bin überzeugt, dass wir alle permanent spirituell weitergehen müssen. Niemandem von uns wird das leichter gemacht durch das Erleiden von Verunglimpfungen und Beschimpfungen. Echte Christen sollten sich auch und gerade im internet dadurch auszeichnen, dass sie derlei konsequent unterlassen – gerade weil es so verbreitet ist. Seriöse Kritik aber, unter Christen gerne auch „correctio fraterna“ genannt, muss möglich sein und bleiben – und zwar auch und gerade „ohne Blatt vor dem Mund“, weil genau das gut jesuanisch ist („Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein, alles andere ist vom Bösen“, Mt 5,37).
Immerhin wird man überdies sagen müssen, dass die sogenannten „Post-Evangelikalen“ derzeit das am lebendigsten und dynamischsten wirkende religiöse Milieu weltweit darstellen. Die „Post-Evangelikalen“ suchen neu nach alten spirituellen Traditionen und lernen derzeit gerade, schlechtes Gewissen bis zu einem gewissen Grad einfach als etwas sehr Gesundes auszuhalten. Was lernen eigentlich Katholiken derzeit – insbesondere, wenn man pure institutionelle Selbstreferentialität nicht als Lernfeld gelten lassen will?
Ich bin mir durchaus nicht sicher, ob es sprach-analog Sinn ergäbe, meine eigene Position als „post-katholisch“ zu etikettieren. Aber man wird jedenfalls verwundert konstatieren müssen, dass es einen „Post-Katholizismus“ bis dato noch nicht gibt, obwohl die römisch-katholische Kirche seit über zehn Jahren in der mutmaßlich schwersten Krise ihrer gesamten Geschichte steckt. Ich lasse die Idee eines „Post-Katholizismus“ hiermit mal erfunden sein – mit der ausdrücklichen Anmerkung, dass ich selbst mich dazu aber einstweilen noch nicht positioniere.
Nun kommt aber das eigentlich Entscheidende, worauf ich mit diesem Aufsatz hinaus will: Die Wiederspiegelung der vier „Evangelikalismus“-Charakteristika Bebbingtons fällt in der Kritik, die die „Post-Evangelikalen“ an der Bewegung üben, von der sie sich abwenden, erstaunlich schwach und vage aus. Am relativ deutlichsten noch bezieht diese Kritik sich auf das Problem der „solidarischen Enge“ im straffen Miteinander evangelikaler Kirchengemeinden. Es werden aber keine gemeindlichen Gegenmodelle versucht; sondern der „Post-Evangelikalismus“ existiert, wie gesagt, von Anfang an fast ausschließlich in der totalen Unverbindlichkeit des Internets. Falls das eine psychologische Reaktion sein sollte (etwa nach dem Motto: „Physische Gemeinde halte ich nach dieser Erfahrung grad überhaupt nicht mehr aus“), wäre das ja menschlich verständlich – aber man müsste diese Reaktion dann um der geistigen Legitimität des „Post-Evangelikalismus“ willen auch explizit als solche reflektieren.
Oft klingt es in ihren Blogposts und Podcasts so, als wollten die „Post-Evangelikalen“ hauptsächlich auch endlich mal ungehemmt und ohne schlechtes Gewissen lustvollen Sex ganz nach ihrem eigenen Gusto genießen können. Auch dieses Moment psychologischer Befreiung aus doktrinärer moralischer Milieu-Enge ist ja durchaus nachvollziehbar – aber als theologischer Inhalt reicht es zu einer wirklich substanziellen Kritik am evangelikalen Christentum bei weitem nicht aus.
Außerdem machen sich einige post-evangelikale Stimmen als „linkschristlich“ vor allem gegen den bereits erwähnten politischen (Ultra-)Konservativismus eines medial besonders auffälligen Segments der evangelikalen Szene stark; dafür empfinde ich zwar gewisse (moderate) Sympathien – aber auch das bleibt für sich allein genommen als „Kritik des Evangelikalismus“ theologisch unterkomplex.
Ihren Aufbruch zur Suche nach kirchengeschichtlicher spiritueller Traditions-Anbindung betreiben die „Post-Evangelikalen“ bislang ebenfalls ohne jedes profunde theologische Schlüssel-Statement.
Nicht einmal eine pointierte Grundsatzerklärung, dass sie sich jetzt überhaupt endlich einmal dahin entwickeln wollen, „Theologie“ zu treiben, geben wortführende „Post-Evangelikale“ bis dato ab.
Gewiss, wir haben es in ihnen noch mit einer sehr jungen Bewegung zu tun, der man einstweilen noch einige konzeptionelle Schwächen nachsehen sollte.
Andererseits sollte Kritik im Idealfall als Hilfestellung verstanden werden. In diesem Sinne: Vorwärts, Post-Evangelikale! Ihr müsst ja nicht gleich katholisch werden.