Cancel Culture, Snowflakes, Wokies, Identitätspolitik

„Don’t be too ‚woke‘!“ mahnte der ehemalige US-Präsident Barack Obama 2019. In den kritischen Medien wurde dieser Appell in dem Sinne interpretiert, dass junge Leute sich keine Attitüde zulegen sollten, in der man andere dafür kritisiert, diese seien nicht „woke“ genug. Das modische polemische Schlagwort „woke“ thematisiert ein Problem, das in spirituellen Bewegungen seit einiger Zeit zunehmend als die „Ambivalenz der Achtsamkeit“ ins Bewusstsein gekommen ist: „Achtsamkeit“ stellt zwar zweifellos ein wichtiges Kriterium der Spiritualität dar, kann aber trotzdem auch übertrieben, kann auch zu viel werden, was dann meist sensibilistische und ästhetizistische Züge annimmt.

Seit ungefähr 2016 wird die Generation der „Millenials“ in den medialen Organen der amerikanischen Konservativen und Rechten zunehmend als „Generation Snowflake“ diffamiert. Der assoziierte Bildwert liegt hierbei vor allem darin, dass Schneeflocken einerseits äußerst fragil sind und andererseits das Thema der „bedeutungslosen Einzigartigkeit“ aufwerfen – übersensibel und egozentrisch also seien die Angehörigen dieser Generation, so die in diesem Bild enthaltene Unterstellung. Besonders kritisiert wird dabei eine mangelnde Bereitschaft, sich mit Meinungen auseinanderzusetzen, die von der eigenen abweichen. Nun sind es aber ganz besonders die Anhänger Donald Trumps, die der politischen Rechten in den USA zuzuordnen sind, die sich in den vergangenen Jahren durch ihre hochgradige Unverträglichkeit gegenüber anderen Meinungen unrühmlich hervorgetan haben. Wie also verteilen sich tatsächlich Wahrheit und Unwahrheit in dieser Auseinandersetzung?

2019 untersuchten die Soziologen Matthias Revers und Richard Traunmüller gezielt das weltanschauliche Innenleben von Soziologie-Studierenden der für ihre Tradition der marxistisch orientierten „Kritischen Theorie“ bekannten Goethe-Universität in Frankfurt am Main und stellten dabei ein bedenkliches Maß an rigider diskursiver Intoleranz fest, was breite öffentliche Resonanz fand. In der Süddeutschen Zeitung vom 16.2.2021 wurde der Oldenburger Althistoriker Michael Sommer interviewt als Repräsentant des „Netzwerks Wissenschaftsfreiheit“, das sich in Reaktion vor allem auf zunehmende linke „Cancel Culture“ und sich häufende aggressive Vorstöße linker „Identitätspolitik“ an deutschen Universitäten gegründet hat. Letzterer Artikel stellt für mich den aktuellen Aufhänger dar, im vorliegenden auf die große Frage hinter alledem einzugehen.

Mit den polemischen Schlagwörtern „Generation Snowflake“ und „woke“ werden prinzipiell echte Probleme angesprochen, wie u.a. der Mangel an „robust civility“ (siehe Timothy Garton Ash); nur tun das „die falschen Leute, mit den falschen Absichten, in einem falschen Tonfall“. Zunächst ist zu fragen, inwieweit von dem betreffenden „Syndrom“ tatsächlich eine einzelne „Generation“ als charakteristisch gekennzeichnet gelten darf. Herausgestellt wird hierbei typischerweise eine junge Generation. Vielleicht betrifft das Problem aber Ältere genauso, deren entsprechende spezifische äußerliche Verhaltensweisen, in denen es sich äußert, nur altersbedingt ein wenig anders ausfallen. Das allein würde freilich wohl kaum rechtfertigen, das Verhalten jener Älteren als „etwas ganz anderes“ zu erklären.

Alle Menschen, die im nüchternen biologischen Sinne geistig herangereift sind oder heranreifen, sehen sich am Anfang den einundzwanzigsten Jahrhunderts mit einer überdurchschnittlich kritischen und unübersichtlichen Weltlage konfrontiert. Ihr grundlegendes Daseinsgefühl wird meines Erachtens vor allem von drei Einflussfaktoren geprägt: einem Plateau-Empfinden, dem extrem einschneidenden Medienwandel des „digitalen Zeitalters“, und einer profunden Bildungskrise. Zum epochentypischen Plateau-Empfinden gehört nicht nur der verlorene Glaube (der freilich ohnehin strukturell absurd ist) an die Möglichkeit eines unendlichen Wirtschaftswachstums, sondern insbesondere auch die Perspektive der globalen Klimakrise. Welche allgegenwärtigen und schwerwiegenden psychischen, geistigen und sozialen Folgen die seit etwa 1990 extrem dynamisierten Veränderungen in der Medienwelt nach sich gezogen haben und ziehen, darüber wird bekanntlich viel geforscht und publiziert. Die Bildungskrise schließlich besteht zentral aus einer Krise der Religion in der Bildung, wodurch breiten Bevölkerungsteilen echte spirituelle Bildungsgüter sehr weitgehend verloren gehen – mit verheerenden, bislang noch völlig unterschätzten Folgen. Es sind vor allem diese Mega-Herausforderungen, auf die unsere gegenwärtigen enormen gesellschaftlichen Spannungen antworten: Inmitten einer hochchaotischen digitalen Informationen- und Impressionen-Landschaft versuchen wir ohne die Hilfe einer traditionellen spirituellen Verwurzelung, eine unverkennbar prekäre globale Zukunft gesellschaftlich zu gestalten – ich weiß nicht, wie naiv man sein müsste, um glauben zu können, dass das ohne gewaltige Konflikte vonstatten gehen könnte.

Natürlich erweisen sich junge Menschen in einer solchen Lage als besonders vulnerabel. Diese existenzielle Situation, die letztlich keine individuelle, sondern eine historische ist, bildet aus meiner Sicht die beste Erklärung für den oben beschriebenen Kreis an Phänomenen.

Eine bekannte Sentenz lautet: „Das erste Opfer jedes Krieges ist die Wahrheit.“ Wir werden uns an die unbehagliche Einsicht gewöhnen müssen, dass das auch schon für den reinen propagandistischen Krieg der Meinungen gilt, wo dieser noch nicht mit physischen Tötungswaffen geführt wird. Wo eine Gesellschaft in einen solchen Meinungskrieg zerfällt, sollte man es mit dem zuversichtlichen Selbstvertrauen nicht übertreiben, dessen Eskalation in einen physischen Bürgerkrieg auf jeden Fall noch souverän verhindern zu können. Gänzlich unvereinbare weltanschauliche Standpunkte sind immer der Anfang vom Ende des Zusammenhalts einer Gesellschaft. Die große kulturelle Stärke des Christentums besteht darin, dass es – wenn man es richtig versteht – seinem ganzen Wesen nach innerhalb eines sehr weitgesteckten Akzeptanz-Spektrums die Möglichkeit völlig unvereinbarer Standpunkte mit freundlicher Entschiedenheit negiert und so in herausragender Weise dazu geeignet ist, eine tragfähige ideelle Gesellschaftsbasis zu konstituieren. Der herausragende Erfolg Europas darin, eine bislang geschichtlich einzigartige Grundlage für echte Demokratie zu schaffen, ist der hier vertretenen Ansicht zufolge maßgeblich dem Christentum zuzurechnen. Bisweilen wird dementgegen behauptet, Europas Demokratie-Erfolg beruhe vielmehr hauptsächlich auf der kulturgeschichtlichen Voraussetzung einer vergleichsweise wenig pluralistischen, „monokulturellen“ Ausgangssituation der europäischen Geschichte; richtig scheint mir aber eher zu sein, dass diese relative kulturelle Homogenität Europas vom Christentum beziehungsweise durch die Annahme des Christentums seitens des römischen Reiches erst hervorgerufen wurde, und diese Staats-Christianisierung erfolgte präzis mit dem Ziel, die beträchtliche kulturelle Divergenz innerhalb des römischen Imperiums davon abzuhalten, dieses antike politische Groß-Gebilde zu zerrütten – das Christentum war nämlich das relativ mehrheitsfähigste Religionsangebot der mediterranen Antike.

Soviel nur als Hinweis auf die Schlüsselrolle, die ich einer grundgreifenden Erneuerung christlicher Spiritualität – notfalls (beziehungsweise vermutlich) „ohne die Kirche“ – für die Bewältigung unserer hier zur Erörterung stehenden gesellschaftlichen Krise beimesse.

Was aber die konkrete aktuelle Problem-Frage nach der Berechtigung außerwissenschaftlicher Kriterien für die Zulassung politischer Meinungen im universitären Diskurs angeht, so möchte ich den folgenden Gedanken nachgehen.

Zunächst einmal vielleicht ganz pragmatisch: Wenn Michael Sommer den Standpunkt einnimmt, es sei ein Unterschied, ob der Auftritt einer Person in einem universitären Hörsaal „autoritativen“ oder „illustrativen“ Charakter trägt (um die von Sommer vorgenommene Differenzierung einmal in meiner eigenen Terminologie auszudrücken), dann bräuchte es dazu eine in der hochschulischen soziokulturellen Praxis klare Unterscheidung und Trennung zwischen zwei entsprechend verschiedenen Arten des Auftretens an einem Kathederpult. Dazu fehlt zumindest in Jetzt-Deutschland aber ein Rahmen tradierter und weiterhin herrschender einschlägiger akademischer Rituale; die gewünschte Unterscheidung ist deshalb real nicht hinreichend gewährleistet. Aber das ist natürlich eigentlich nur ein Detail des Themas.

Schritt für Schritt also ins Grundsätzlichere. Worin besteht tatsächlich die Funktionalität der Strategie von „Deplatforming“? Könnte nicht gerade die Universität in einem größeren gesellschaftlichen Sinnzusammenhang „dazu da“ sein, bis zu einem gewissen Grad Debatten „aufzufangen“, die andernorts in der Gesellschaft, wenn sie nur dort geführt werden, ohne akademische „Kontrolle“, noch weitaus größeren Schaden anrichten könnten? „Deplatforming“ ist ein Versuch der Auseinandersetzungs-Vermeidung und -„Verindirektung“. Eine alte jüdisch-christliche Weisheitsparabel erzählt davon, wie ein ängstlicher Hauseigentümer einen Einbrecher, den er sogleich bemerkt, durch sofortige lärmende Aufregung in die Flucht schlägt. Der Verbrecher hört deswegen freilich nicht auf, seinem Metier nachzugehen. Bei seinem nächsten Versuch bricht er ins Haus eines starken und selbstbewussten Mannes ein. Der bemerkt ihn nicht weniger rasch als der Erste, aber im Unterschied zu diesem ist das zweite „Opfer“ kaltblütig genug, sich völlig still zu verhalten, bis der Kriminelle, der ihn noch nicht sieht, ihm ganz nahe gekommen ist – dann packt er ihn plötzlich, fesselt ihn und schafft ihn ins Gefängnis, womit er ihn auch für die Zukunft unschädlich gemacht hat. In ihrem ursprünglichen religiös-spirituellen Kontext erzählt diese Geschichte vom Umgang mit der „Sünde“; aber sie passt gut hierher: Sich Herausforderungen auf Abstand halten zu wollen, ist eine schwache Lebensstrategie, vor allem, was den individuellen Beitrag zur Vitalität der Gesellschaft angeht.

Eine besondere Gefahr derart auseinandersetzungs-averser Sozialkultur besteht darin, dass die echte, konkrete Attacke auf gesellschaftliche Güter in der „Cancel Culture“ an Wahrnehmbarkeit verliert. Diskriminierung etwa erscheint dann rasch „bloß“ noch als eine reine „Beleidigung“ des Diskriminierten, ohne noch substanziellere Auswirkungen für den Betroffenen. Wenn ich jemandem verbiete, etwas zu sagen, verringert das in einem größeren, allgemeineren Kontext die Auseinandersetzung mit den realen Folgen dessen, was der Betreffende wahrscheinlich (wenn auch nicht unbedingt) seiner verbal geäußerten Gesinnung gemäß praktisch tut. Das Wort wird auf schieflagige Weise wichtiger als die Tat. Alles wird der „Principiis-obsta“-These untergeordnet, dass Worte IMMER entsprechende Taten nach sich ziehen. Gewiss kommt der Wort-Tat-Zusammenhang vor; aber er ist eben nicht zwangsläufig, und seiner Perspektive alles unterzuordnen, ist daher eine maßlose Ideologie. Diese Ideologie weist den angenehmen Nebeneffekt auf, sozial bequem zu sein: „Noli me tangere“ (schon in der lateinischen Übersetzung von Joh 20,17 ein gewisses Missverständnis, ursprünglich ist wohl eher „Halte mich nicht fest“ gemeint) wird hier auf eine gänzlich fehllaufende Weise zum heimlichen Motiv hinter einer grundlegend timiden Daseinsstrategie, der man durchaus unterstellen kann, dass sie teilweise auch dazu dienen soll, ausgeprägt narzisstischen Individuen mehr ungestörte Selbstgefälligkeit zu ermöglichen.

Es stellt sich auch die Frage: Muss man den Schwachen schützen, wenn er stark genug ist, seine Schwäche zu instrumentalisieren, ja vielleicht sogar zu inszenieren? Das wirft sehr kritische Fragen auf.

Außerdem: Extremisten fühlen sich typischerweise zensiert. Sie sind oftmals nicht in der Lage anzuerkennen, dass ihre Positionen gar nicht unterdrückt werden, sondern schlicht bei einer Mehrheit nicht willkommen sind und keinen Beifall finden. „Cancel Culture“ bestätigt solche Extreme darin, sich noch hartnäckiger hinter ihrer Zensur-Lebenslüge zu verschanzen.

Da in einem internationalen Rahmen die Tendenzen zur Beschneidung der Wissenschaftsfreiheit heute unübersehbar sind, ist es durchaus wichtig, rechtzeitig auf solche bedenklichen Entwicklungen zu reagieren, und nicht erst dann, wenn es dazu womöglich schon „reichlich spät“ ist. Der rein deutsche Fokus des erwähnten Michael-Sommer-Interviews trägt diesem globalen Gesamthorizont des Problems nicht genügend Rechnung.

Allerdings lassen sich auch einige gewichtige Argumente geltend machen, die in die entgegengesetzte Richtung zielen.

In der Pädagogik kennen wir die schwierige Abwägung zwischen Exposition und Behütung. Vorauszusetzen, mit dem Glockenschlag des achtzehnten Geburtstags entfiele dieses Dilemma, ist naiv. Zuverlässige geistige Reife soll durch ein akademisches Studium ja gerade deshalb gefördert werden, weil man ihr Vorhandensein an dessen Anfang eben noch nicht erwarten kann.

Kulturelle Identitäten beruhen grundsätzlich auf irrationalen Sensibilitäten. Das sieht man beispielsweise sehr „schön“ an dem Artikel „Sollen sie doch die Hände waschen“ von Nele Pollatschek in der SZ vom 13./14.2.2021 darüber, dass es gesellschaftlich unmöglich ist, Männer priorisiert gegen COVID-19 zu impfen, und worin die Verfasserin eine „Impf-Titanic“ evoziert, weil es bei uns ein irrationales gesellschaftliches Tabu darstellt, Männer als besonders schutzbedürftig einzustufen.

In Deutschland ist alles, was „rechts“ ist, für die weitaus Meisten der blanke Horror – das dient auch als Identitäts-Ritual (für beide Seiten). Aber es wird nichts besser, wenn wir dieses Ritual verwerfen, nur weil es irrational ist. Dann bekommen wir stattdessen nämlich bloß andere, ebenso irrationale Identitäts-Rituale. Im Blick auf diesen Aspekt der conditio humana hilft nur ein gewisses Maß an Humor, der weder der Wissenschaft noch der Politik als solcher eigen ist.

Es ist wichtig zu sehen, dass es sich bei alledem grundsätzlich nicht um ein spezifisches Wissenschafts-Problem handelt. Die israel-kritische „BDS“-Bewegung, die schon erwähnte „Impf-Titanic“ (dass es themenunabhängig nicht akzeptiert wird, Männer als schutzbedürftig zu klassifizieren) oder die Gleichstellungs-Sinngrenze sind Probleme von analoger Struktur, obwohl keine Probleme der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung. Beispielsweise eine Debatte darüber, ob man die Politik des heutigen Staates Israel kritisieren kann, ohne deswegen Antisemit zu sein, ist in unaufgeregter Form in Deutschland nicht möglich. Das ist irrational – aber es ist eine substanzielle gesellschaftliche Gegebenheit. Bei all meinen eben genannten Beispielen geht es darum, dass Identitäten nichts Rationales sind. Sie können es nicht sein, denn „Identität“ ist ein philosophisch ebenso kategorisch unaufklärbares Geheimnis wie die Willensfreiheit. Von letzterer habe ich immer wieder ausgeführt, dass wir sie um der gelingenden Lebenspraxis willen eindeutig hypothetisch postulieren müssen, weil die gegenteilige Annahme keine praktikable Alternative darstellt – und dasselbe gilt von den „Identitäten“ der Dinge, Personen und Positionen: Identitäts-Konstrukte sind alltagspraktisch unentbehrlich, aber alle Identitäts-Annahmen sind und bleiben philosophisch gesehen unaufhebbar „provisorisch“. Zumindest im laufenden Alltagsbetrieb ist das den meisten Menschen überhaupt nicht bewusst. In einer Zeit, die unsere Identitäts-Provisorien mehr als sonst in Frage stellt, zeigen sich heute verschärfte Mechanismen der „blinden“ Identitäts-Verteidigung.

Es gilt die elementaren Bedürfnisse der Verteidiger dahinter zu erkennen. Identitäts-Verteidigern ihre Bedürfnisse in Abrede zu stellen, ist nicht weiterführend. Es ist heute ein grundlegendes Identitäts-Bedürfnis vieler – einer riesigen Mehrheit – in Deutschland, dass „rechte“ Positionen genauso wenig diskutiert werden dürfen, wie der Holocaust geleugnet werden darf. Auch die formelle Kriminalisierung der Holocaust-Leugnung ist nicht streng rational – streng rational wäre nur die Haltung: „Lasst doch die Spinner plappern, was sie wollen“ -; trotzdem gehört sie zu den Identitäts-Bedürfnissen unserer Gesellschaft, hinter denen eine Mehrheit ganz entschieden steht (ich auch). Die Vorstellung, (Geistes-)Wissenschaft sei von solcherlei unwissenschaftlichen Vereinnahmungen exempt oder könne es jemals sein, ist existenziell unreflektiert.

Das eigentlich zentrale Problem ist, dass wir ein gestörtes Verhältnis zu unserer eigenen Irrationalität haben. Seit der Aufklärung ist uns allen beigebracht worden, die Rationalität für das schlechthin überlegene Instrument sinnvoller Orientierung in der Welt zu erachten. Am hohen Wert der Rationalität ist viel Wahres – nur eben nicht ganz so viel, nicht ganz so absolut, wie wir uns einbilden wollen und sollen. Es gibt in tieferer Wirklichkeit wesentliche geistige Orientierungs-Gesichtspunkte im menschlichen Dasein, die sich nicht rational einordnen lassen; nennen wir sie – provisorisch – „Ahnung“. Diese Tatsache zu verleugnen oder auch nur abzuqualifizieren ist geistig-seelisch ungesund. An einer entsprechenden Störung – nennen wir sie (provisorisch) „existenzielle Ahnungslosigkeit“ – leiden derzeit viele Menschen in unserer Gesellschaft. In gewissen Sinne kann man sagen, dass ihre Intelligenz davon unbeeinträchtigt bleibt; der Anwendungshorizont ihrer Rationalität ist es, der ihnen in Verwirrung gerät (es sei denn, man definiert Intelligenz so, dass sie die Aspekte der Klugheit ihres richtigen Einsatzes selbst mitenthält). Den Grund für diesen verbreiteten „Ahnungs“-Mangel sehe ich, wie klar sein dürfte, im krisenhaften gesellschaftlichen Mangel an (echter) Spiritualität.

Objektivität ist erkenntnistheoretisch eine Illusion. Obwohl die Objektivität des akademischen Betriebes sich mittlerweile als geringer erweist, als er selbst im zwanzigsten Jahrhundert glaubte, wollen und sollten wir unsere Universitäten nicht beschädigen. Schwierige Aufgabe.

„Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht.“ Wir müssen uns irgendwo zwischen „nicht ganz dicht“ und „vernagelt“ bewegen und können einfach keine seriösen Faustregeln darüber aufstellen, wo genau zwischen diesen beiden großzügig voneinander entfernt wirkenden Ufern tatsächlich jeweils die sicherste Fahrrinne verläuft – manchmal näher am einen, manchmal näher am anderen Ufer -, und worin genau eigentlich die Erfahrung eines guten Lotsen in diesen trügerischen Gewässern besteht.

Im Grunde führt uns diese Debatte an die schmerzhaften kategorischen Grenzen dessen, was unsere Universitäten zur Wahrheitsfindung beitragen können. Deshalb ist diese Debatte wichtig. Der Glaube an die universelle, überragende Klärungskompetenz des „Akademischen“ war ein nun verflossenes Jahrhundert lang viel zu absolut und übermächtig. Die Relativierung dieser „Studier-Religion“ ist längst mit hoher Dringlichkeit überfällig. Und trotzdem sollen unsere Universitäten mit diesem Einwand gegen ihren hergebrachten prätentiösen Gestus geistiger Unantastbarkeit nicht böswillig demontiert werden. Wir brauchen sie trotz allem als Korrektiv gegen ideologische Entgleisungen der Gesellschaft, wir haben keine bessere Alternative für ein entsprechendes Korrektiv.

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