Mit einer obsoleten Objektivitäts-Ideologie des neunzehnten Jahrhunderts definieren wir alle unsere „Professoren“ gesellschaftsoffiziell nach wie vor über ihre Forschungsfunktion, die darin besteht, Spezialthemen bis in Details hinein zu verfolgen, die niemand anderen mehr interessieren und bei deren Durchdringung eigentlich auch niemand dem singulären Experten mehr geistig folgen kann – aber in Wirklichkeit benötigen wir unsere Professoren, in allen Fächern außer den technischen und medizinischen, inzwischen vor allem in ihrer Lehrerfunktion, als Personen mit gesellschaftlich standardisierter Autoritäts-Legitimation komplexe Themen auf deren allgemeinrelevanter Deutungsebene zu verstehen und dieses Verständnis dergestalt sowohl an Fachstudenten als auch an ein breites öffentliches Publikum zu vermitteln, dass bei diesen gemischten Adressaten ihres vorwiegend didaktischen Wirkens ein existenziell wertvoller und vielfältig gesellschaftsdienlich motivierender Aha-Effekt entsteht. Diese Widersprüchlichkeit in der Bestimmung der Professorenrolle ist eine jener gesellschaftlichen Ambivalenzen, mit denen wir leben müssen. Im Falle von Theologieprofessorinnen und -professoren, die seit jeher mit dem Trivialverdacht konfrontiert sind, Gott nicht erforschen zu können, fallen die Folgen dieser Ambivalenz mittlerweile besonders prekär aus.
Als ich 1994 Erstsemester in Humanmedizin war, liebten die Professoren ihren namenlosen Kollegen zu zitieren, der als erster den Spruch geprägt hatte: „Meine Damen und Herren, sehen Sie sich im Hörsaal genau um – zwei von drei Ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen, die Sie heute neben sich sehen, werden bis zum Physikum nicht mehr hier sein.“ Ein ungefähr analoger sarkastischer Spruch ließe sich inzwischen, 2021, auf deutsche Theologieprofessorinnen und -professoren münzen: „Meine Damen und Herren, sehen Sie sich unter Ihren Kolleginnen und Kollegen noch einmal genau um – mindestens zwei von drei unter Ihnen werden keine Lehrstuhlnachfolger mehr haben.“ Vielleicht folgt ihrer Emeritierung „kosmetisch“ noch ein paar Jahre lang eine „Lehrstuhlvertretung“ – aber das war’s, danach wird die vergilbte akademische Franse, dieser Überrest dessen, was vor Jahrhunderten einmal die Königin der universitären Disziplinen war, hinter der einen oder anderen höflich vorgehaltenen formellen Begründung endgültig abgeschnitten.
Seit einigen Jahren bereits sind in Deutschland immer noch mehr als 200 Professorinnen und Professoren für katholische Theologie damit beschäftigt, pro Jahr nur noch rund 100 Absolventen des Vollstudiums in katholischer Theologie auszubilden. Diesen Betreuungsschlüssel als absurd zu bezeichnen, ist in Anbetracht der drangvollen Verhältnisse in manch anderem Studienfach noch höflich ausgedrückt. Vor allem aber kann das Fach als solches sich als akademisches Angebot in seiner bisherigen Form so gar nicht mehr rekrutieren: Käme es in diesem Zahlenrahmen zu hochgegriffenen zehn Habilitationen pro Jahr, könnte sich der akademische Lehrkörper für katholische Theologie in Deutschland in seinem bisherigen Umfang aus dieser personellen Ressource heraus mit Müh und Not alle zwanzig Jahre einmal komplett erneuern, was an sich zwar vielleicht noch halbwegs realistisch klingen mag, aber dies geschähe dann unter völligem Verzicht auf jegliche kompetitive Selektion, sondern wer sich habilitiert, könnte eo ipso beruhigt davon ausgehen, auch ordentlicher Professor zu werden – eine Ausgangssituation, die selbst unter Nicht-Marktliberalen nicht gerade als Exzellenz-Ansporn eingeschätzt wird. Soweit wird es freilich nicht kommen.
Ich hatte vor 26 Jahren mein erstes Semester in katholischer Theologie hinter mir. (Wer jetzt nachrechnet, wird selbst herausfinden können, ob ich zu denjenigen gezählt habe, die es in der Humanmedizin bis zum Physikum gebracht haben.) In deutlichem Kontrast zu den obigen Angaben über das Vollstudium ist seit damals die Gesamtzahl aller katholischen Theologiestudierenden in Deutschland allerdings nur um etwa 7 Prozent geschrumpft (in absoluten Zahlen bewegt sie sich nach wie vor grob gesagt leicht unterhalb von 20.000). Die Erklärung für die sich hierin auftuende Diskrepanz mit der erstgenannten statistischen Beobachtung liegt darin, dass es sich bei heutigen Theologiestudierenden fast ausschließlich um angehende Schullehrerinnen und Schullehrer für katholische Religionslehre handelt. Diese Lehramtsstudierenden kommen freilich als Nachwuchs für die wissenschaftliche Theologie nicht in Betracht. Ihre Immatrikulation bezeugt jedoch, dass im gesellschaftsweiten Horizont weiterhin keineswegs ein generelles Desinteresse am Christlichen gähnt – und auch als Ausdruck einer prinzipiell theologiefeindlichen Konzeption des Christentums lassen sich diese Zahlen nicht interpretieren.
Wie also geht es weiter mit der bisher international so berühmten Theologie in Deutschland? Wenn unsere derzeitigen katholischen Theologieprofessorinnen und -professoren zu dieser Frage keine profilierten beantwortenden Visionen entwickeln, besiegeln sie damit im Grunde bereits ihre eigene Bedeutungslosigkeit, ja, sie sprechen sich dann geradezu implizit selbst das Urteil: „Gewogen und zu leicht befunden.“ Jedes „Weiter so“, jedes „Business as usual“ ist in der gegebenen hochdynamischen und prekären gesellschaftlichen Situation hart gesagt ein „Verrat“ an der großen Aufgabe der Theologie und würde dafür sprechen, dass die betreffenden akademischen Würdenträger insgeheim nichts anderes mehr interessiert als ihr eigener sicherer, saturierter bundesdeutsch-professoraler Beamtenstatus. Ein entscheidender Prüfstein für die wahre Gesinnungskraft unserer Theologieprofessorinnen und -professoren ist und bleibt dabei ihre Haltung gegenüber der Amtskirche. Die Schusslinie entsprechender wechselseitiger Kritik geschmeidig zu meiden, mag zu meiner Studienzeit noch eine lässliche Sünde für Theologieprofessoren dargestellt haben; jetzt indessen lädt unser theologisches Universitätspersonal mit einem solchen bequemen Verhalten ungleich schwerere ideelle Schuld auf sich, denn heute leben wir in einer Zeit, in der es darauf ankommt, dass Theologinnen und Theologen ein Übergreifen der gesellschaftlichen Krise der Kirche auf die tiefere geistige Befindlichkeit des Christentums resolut verhindern und abwenden; unter solchen Umständen ist „Feigheit vor dem Bischof“ (um es mal drastisch beim Namen zu nennen) kein Kavaliersdelikt mehr.
Ich persönlich bin freilich der Meinung, dass ein hohes Niveau der Theologie sich auf Dauer künftig nicht mehr nur durch Orientierung am universitär hergebrachten akademischen Wissenschaftsparadigma wird aufrecht erhalten lassen. Jedes Ansinnen von Nibelungentreue gegenüber dieser ganz bestimmten Idee von „Wissenschaftlichkeit“ droht die Theologie in einen Abgrund zu führen, der vielleicht subtil sein mag, dabei aber um nichts weniger abgründig ist. Ich bin zwar durchaus ein nachdrücklicher Befürworter echt wissenschaftlichen Geistes – aber diese Programmatik allein reicht für eine qualitätvolle Theologie nicht aus; zumindest heute nicht mehr. Gute Theologie muss über ihre formalisierte Wissenschaftlichkeit hinaus stets wirklich „geistig“ sein und bleiben, andernfalls verfehlt sie kategorisch ihren eigentlichen Daseinszweck.
Unter dem Einfluss naturwissenschaftlicher Methodenvorbilder hat auch die europäische „Geisteswissenschaft“ in den vergangenen Jahrzehnten einen beträchtlichen Teil ihrer echten „Geistigkeit“ eingebüßt. So ist zum Beispiel das Edieren von Quellen nach wie vor zweifellos wichtig – stellt aber für sich allein genommen noch keine geistige Erkenntnis, sondern lediglich eine Vorarbeit zu solcher dar. Ich wage die These: In der Theologie gibt es längst nichts mehr zu edieren, was die Theologie noch verändern könnte. In der Geschichtswissenschaft kann man mit dem Edieren endlos weitermachen, darin besteht ihre Bestimmung. Die Bestimmung der Theologie besteht darin nicht. Ihr großes Zeitalter des Edierens hat seinen geistigen Grenznutzen und seine gesellschaftlichen Grenzkosten bereits vor etwa 40 Jahren erreicht. Seitdem bleibt die Theologie der Christenheit eine grundlegende Umorientierung schuldig. Sie kann sich nicht mehr sinnvoll durch immer „besseres“ Edieren von Altem verändern, sondern nur durch neue Ideen. Wenn in der christlichen Theologie heute keine Fähigkeit oder kein Mut zum Ideen-Haben mehr besteht, hat sie in Kürze vollends ausgedient, und zwar vermutlich für immer. Theologische Ideen sollten durch solide wissenschaftliche Bildung qualifiziert werden – aber der Akzent liegt hier vor allem auf dem Wort „Bildung“. Bildung ist unvermeidlich immer etwas wesentlich Subjektives. Ein Wissenschaftsbegriff, der sich unreflektiert und unrelativiert einer „eindimensionalen“ Maxime der „Objektivität“ verschreibt, entwickelt sich nolens volens bildungsfeindlich. Kein anderes akademisches Fach ist so wenig von einem echten, umfassenden Bildungsideal ablösbar wie die Theologie.
Was bedeutet das für den Status der Theologie an deutschen Universitäten? Es müsste speziell dafür nicht zwingend irgendetwas bedeuten, denn die Theologie soll ja nicht aufhören, wissenschaftlich sauber zu arbeiten – es wird hier lediglich konstatiert, dass dies allein nicht genügt. Man kann auch keinem Geschichtsprofessor vorschreiben, dass das Edieren von Quellen wichtiger ist als ihr Auswerten; man muss ihm selbst die Entscheidung überlassen, ob es an der Zeit ist zu edieren oder irgendetwas anderes zu tun – genau dieser Entscheidungskompetenz wegen ist er Professor und nicht bloß wissenschaftlicher Assistent. Er bestimmt in der Wissenschaft nicht bloß die Taktik, sondern die Strategie. Wenn katholische Theologen hinsichtlich dieser Freiheit hinter jedem säkularen Historiker zurückbleiben, bewegen sie sich in vergleichsweise größerer Ferne zu jenem eigentlichen generellen Bildungsanspruch, zu dem gerade sie sich stetig in besonderer Nähe halten sollten und müssten – eine pure Absurdität. Mit anderen Worten: Es ist grotesk, darüber zu diskutieren, ob die Theologie von den allgemeinen Maßstäben der Wissenschaftlichkeit dispensiert werden kann – vielmehr wird aller wahrhaft guten Theologie sozusagen in gewissem Sinne die regelmäßige „Übererfüllung“ dieser Maßstäbe abverlangt, und wir reden davon, dass Theologieprofessoren ungenügend erscheinen, wenn sie „nur“ noch Wissenschaftler sind.
Der springende Punkt ist, dass universitäre Theologinnen und Theologen gerade den entscheidenden Dienst, den die Theologie und das Christentum von ihnen benötigen, heute und in absehbarer Zukunft nicht länger dadurch leisten können (wenn sie das denn je wirklich dadurch konnten), dass sie auf irgendeiner gedachten Methodenanwendungs-Olympiade der Wissenschaftlichkeit glänzen. Sondern die methodische Wissenschaftlichkeit gleicht im Falle eines „wahren“ Theologen eher einem bloßen Zulassungs- und Eingangs-Test, bei dem der Nachweis seiner Leistungen niemanden in Form einer Rational-, Intervall- oder auch nur Ordinalskala interessiert, sondern ausschließlich in Form einer Nominalskala, das heißt auf einfachstem Skalenniveau, nämlich als simple binäre Unterscheidung zwischen „bestanden“ oder „nicht bestanden“. Ihre eigentliche Brillanz, um die Theologen im Interesse der Gesellschaft zu ringen haben, liegt dezidiert in jenen Qualitäten ihrer Beiträge, die aus streng und rein wissenschaftlicher Sicht als „übergebührlich“ zu gelten haben werden (um an dieser Stelle einmal einen spezifisch theologischen Lieblingsausdruck ins Spiel zu bringen).
Ohne Zweifel ist das eine anspruchsvolle Messlatte. Aber jede einzelne Katholikin und jeder einzelne Katholik, deren Bildung keine akademischen Höhen und Weihen erreicht hat, haben gegenwärtig extreme Herausforderungen ihres Weltbildes zu bestehen und zu bewältigen. Angesichts dessen haben sich die intellektuell Privilegierten unter den Getauften nicht qua Examen eine Bonuspackung Einweg-Taschentücher als Lizenz zu gesteigertem Gejammer verdient.