„Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.“ (Joh 20,19-23)
Mit der Nies-Etikette in Zeiten von Corona ist Jesu Verhalten völlig unvereinbar: Er hauchte sie an! Der Heilige Geist wird hier durch einen körperlichen Akt übertragen – wie ein Virus. Schwer anzunehmen, der Johannes-Evangelist habe über diese Darstellungsweise nicht nachgedacht, sondern sie sei ihm rein sponti-mäßig poetisch aus der Feder geflossen.
Schauen wir uns noch drei weitere Stichworte im Zusammenhang dieser ganzen Perikope genauer an: „Juden“, „Friede“, „Sünde“.
„Juden“ – das waren Jesus und seine Jünger auch, ohne Wenn und Aber. „Die Juden“ ist eine Abgrenzung aus der Zeit des Johannesevangeliums, unseres spätesten Evangeliums; denn erst rund ein halbes Jahrhundert nach dem Tod Jesu begannen „frühchristliche Juden“ und „frührabbinische Juden“ tatsächlich manifest getrennte religiöse Wege zu gehen. Dieser historisch-kritische Einwand erweist sich hier als tiefen-theologisch sehr brauchbar: Die Jünger kommen zusammen in Furcht vor Menschen, die keineswegs so klar „die Anderen“, sondern die in den allermeisten Hinsichten immer noch und weiterhin durch und durch ihresgleichen sind. Das erinnert an die heutige Situation der Menschheit unter Corona: „Berechtigte“ Furcht müssen diejenigen haben, die heute, wie behutsam auch immer, unterm Strich etwas „gegen“ all die massiven Sicherheitsmaßnahmen gegen das Virus zu äußern wagen; denn sie ziehen den nicht unerheblichen Zorn jener Mehrheit auf sich, die keineswegs irgendwie substanziell „die Anderen“, sondern durchaus „ganz“ ihresgleichen sind, aber die sich in der gegenwärtigen Situation entschieden haben, ganz auf menschengemachte „Sicherheiten“ zu setzen und dafür einen sehr hohen Preis an Lebendigkeit zu zahlen bereit sind. Dagegen kann und muss man mit Recht einwenden, dass das in keiner Weise die spirituelle Lektion zu sein scheint, die aus dem Aufritt Jesu in Johannes 20,19-23, jener entscheidenen österlichen Stelle, hervorgeht. Es ist existenziell-theologisch sehr sinnvoll, das Wort „Juden“ in Joh 20,19 in einem völlig übertragenen Sinne zu lesen, anstatt darunter den religiös-kulturellen Klassifikationsbegriff zu verstehen, als den wir dieses Wort sonst heute benutzen.
„Friede“: Wenn Jesus dieses Grußwort gebraucht („Schalom“), dann sollten wir darin nicht nur eine Konvention sehen, sondern dieses Stichwort mit zwei wichtigen Stellen im Neuen Testament in Verbindung bringen: „Der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt“ (Philipper 4,7), und: „Frieden lasse ich euch; meinen Frieden gebe ich euch. Nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt. Euer Herz erschrecke nicht und fürchte sich nicht!“ (Joh 14,27) Das heißt, der Friede Gottes lässt sich nicht mit vernünftigen Argumenten rechtfertigen. Er kann nur erlebt werden. Rein vernünftige Argumente werden niemals rechtfertigen können, irgendetwas zu unterlassen, das der Eindämmung eines Virus dienen könnte. Die reine Vernunft ist immer in einer Logik der Eskalation gefangen. Wenn ihre Eskalation den „Break-Even-Point“ der Lebensfeindlichkeit durchbrochen hat und dieser Umstand anfängt, einer Gesellschaftsmehrheit bewusst zu werden, dann bleibt nichts anderes übrig als das Eingeständnis, dass man manchmal Leben nur bewahren kann, indem man die Forderungen der reinen Vernunft entschlossen relativiert. Ein Friede, der nicht entscheidend in Gottvertrauen gründet, ist immer ein lebloser und lebensfeindlicher Friede.
„Sünde“: Sünde bedeutet „Absonderung“, Getrenntsein von Gott. (Etymologische Besserwisser-Debatten professioneller Altgermanen über „sin-“ und „sund-“ können wir uns sparen, im Zweifelsfall genießt die Volksetymologie volle eigenständige Rechte.) Die körperliche Begegnung mit Jesus und die Trennung von Gott werden hier also in einen direkten antithetischen Gegensatz gesetzt: Der anthropologische Grundzustand der Gottesferne kann nur aufgehoben werden, wenn wir bereit sind, mit Gott in der Gestalt des Mitmenschen in dessen ganzer physischer Realität in Berührung zu kommen. Insofern ist eine vernünftige Gesellschaft der Mindestabstände und der allgegenwärtigen Mund-Nasen-Filtermasken in einem tiefsten Sinne „sündig“.
Der Wiener Künstlerseelsorger Gustav Schörghofer SJ predigte zu dieser Bibelstelle am Weißen Sonntag 2020: „Von einer Naturkatastrophe heimgesucht, verschließen wir uns in unserem eigenen System, um dieses System nicht zu gefährden. Bricht das Gesundheitssystem zusammen, sterben Menschen, deren Leben in einem funktionierenden System noch erhalten werden könnte. (…) Aber ist tatsächlich das Leben das höchste Gut? Wird nicht das Leben sinnlos, wenn es über sich hinaus nichts Größeres, nichts Höheres findet? Und was wäre dann das höchste Gut? Das Höchste ist weder in einem Gut noch in einem Wert zu finden, sondern in einer Haltung. Das Höchste ist die Hingabe des Lebens, nicht seine Bewahrung. Christen glauben an einen Gott, der sein Leben hingegeben hat, nicht bewahrt. Es ist ein Gott, der sich selbst für uns hingegeben hat und immer noch hingibt. Dieser Geist, diese Haltung ist die Grundlage der europäisch-abendländischen Kultur. Ihm verdankt sich unser Gesundheitssystem bis heute – auch ohne ausdrückliche Berufung auf das Christentum. (…) Was uns auferlegt und aufgezwungen wird, soll größere Übel verhindern. Aber zu sagen, die Liebe verlange jetzt Distanz, ist ein Unsinn. Die Liebe braucht gewiss Distanz, aber sie sucht die Nähe zum Geliebten. Die Liebe besteht darin, dass der Liebende dem Geliebten mitteilt von dem, was er ist und hat, und der Geliebte dem Liebenden ebenso. Mitteilen bedeutet hier nicht, aus der Distanz Signale der Zuneigung zu senden, sondern hingebungsvolles Dasein für den Anderen.“