Sehr geehrter Christian Rommert!
Ein mir nötig erscheinendes Wort zu Ihrem „Wort zum Sonntag“ (ARD) vom 25.04.2020.
Sie werfen allen, die jetzt nicht Abstand halten und Mundschutz tragen, „Egoismus“ vor. Indem Sie darauf hinweisen, dass Egoismus nicht mit Nächstenliebe vereinbar sei, nehmen Sie für Ihre Äußerungen biblische Rückendeckung in Anspruch.
Zunächst einmal: Biblische Rückendeckung zu Fragen der Etikette in Anspruch zu nehmen – und sei diese Etikette noch so existenziell relevant wie derzeit! – ist immer recht gewagt. Denn die Bibel gibt uns die „Freiheit eines Christenmenschen“ (diese Formulierung stammt sogar eher aus Ihrem evangelischen Vokabular als aus meinem katholischen), während Abstands- und Mundschutzregeln maximale physische Engführungen des zu Tuenden und zu Lassenden darstellen; letztere normativen Engführungen in ihrer zwangsbewehrten Konkretheit direkt von der Bibel herzuleiten, stellt schon eine kritische geistige Fallhöhe dar. Mit solcher argumentativer Vorgehensweise hat die Geschichte generell keine so guten Erfahrungen gemacht.
Um an dieser Stelle gleich eins ganz klar festzuhalten: Sollen wir Abstand halten? Ja. Sollen wir Mundschutz tragen? Ja.
Aber: Mit „Nächstenliebe“ hat das nichts zu tun. Gustav Schörghofer SJ, Künstlerseelsorger in Wien, hat diesen Einwand vor einer Woche treffend in folgende Worte gefasst: „Wir werden von einer Naturkatastrophe heimgesucht. Was uns auferlegt und aufgezwungen wird, soll größere Übel verhindern. Aber zu sagen, die Liebe verlange jetzt Distanz, ist ein Unsinn. Die Liebe braucht gewiss Distanz, aber sie sucht die Nähe zum Geliebten. Die Liebe besteht darin, dass der Liebende dem Geliebten mitteilt von dem, was er ist und hat, und der Geliebte dem Liebenden ebenso. Mitteilen bedeutet hier nicht, aus der Distanz Signale der Zuneigung zu senden, sondern hingebungsvolles Dasein für den Anderen.“
Ich selbst würde es so sagen: Jesus verstand Nächstenliebe sehr konkret. Er definierte sie unter anderem als „Kranke besuchen“. Von Viren wusste man damals noch nichts, und Mundschutz war ebenfalls noch unbekannt. Aber dass bestimmte Krankheiten ansteckend sind, das wusste man. Jesus fügte jedoch nicht hinzu: „…aber besucht sie nur, wenn sie nicht ansteckend sind!“
Was wir heute praktizieren, sind Regeln, die einem sehr abstrakten Zweck dienen: „Flatten the curve!“ Ich glaube, weil die Regeln so körperlich sind (übrigens, es gibt eine Menge Menschen, die unter einer Mund-Nasen-Filtermaske sehr schlecht Luft bekommen – das nur am Rande), vergessen wir zu leicht, dass der Zweck dieser Regeln eigentlich höchst abstrakt ist. Wir schützen mit ihnen nämlich keineswegs konkret diesen oder jenen Mitmenschen vor Krankheit und Tod. Die klare Zweckbestimmung der derzeitigen Maßnahmen wurde verbindlich von Virologen definiert, streng objektiven Experten, die dabei ausdrücklich den unbequemen Satz wiederholen: „Wir verhindern damit keine Ansteckungen, wir schieben sie nur zeitlich nach hinten, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten!“
Mehrere namhafte Verfassungsrechtler (z.B. Oliver Lepsius) haben genau aus diesem Grund auch klargestellt, dass es in der gegenwärtigen Lage keine akzeptable juristische Handhabe gibt, das Grundrecht „Schutz des Lebens“ über die anderen Grundrechte zu stellen. Damit alle Grundrechte gebührend geschützt sind, geht eine solche Hierarchisierung unter ihnen nur dann, wenn der damit intendierte „Lebensschutz“-Zusammenhang SEHR konkret aufgezeigt werden kann – und diese Konkretheit reicht den Verfassungsrechtsexperten in „Flatten the curve“ bei weitem nicht aus, wie sie fast unisono bekunden. Weshalb sie auf eine rasche Rückkehr zur legalen Normalität drängen, denn andernfalls steht die faktische Gültigkeit unserer Verfassung auf dem Spiel – ein sehr hoher gesellschaftlicher Wert, an dem ebenfalls und mindestens ebenso konkret Menschenleben hängen.
Damit komme ich zu meinem zentralen Punkt: Nicht zuletzt dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verdanken wir es, dass in unserem Land ein Grundvertrauen zwischen Bürger/innen und Regierung herrscht, das im internationalen Vergleich offenbar überdurchschnittlich ist. Dieses Grundvertrauen ist gerade in der jetzigen Krise für uns alle sehr, sehr wichtig. Denn viele der wichtigsten Maßnahmen gegen eine Pandemie, beispielhaft das Händewaschen, kann kein Staat jemals effektiv auf ihre Einhaltung hin kontrollieren. Gerade in einer Pandemie lebt die Bewältigung der Krise also entscheidend von mündigen, informierten und selberdenkenden Bürgerinnen und Bürgern – nicht von Ausübungsakten der Staatsgewalt in Verbindung mit „Untertanen-Gehorsam“.
Der beste und wichtigste Grundsatz der neuen Kontaktvorgaben der Bundesregierung ist deshalb der, man solle „seine physischen Kontakte auf ein absolut nötiges Minimum reduzieren“. Denn jede/r mündige Bürger/in muss letztlich bis zu einem gewissen Grad selbst und eigenverantwortlich entscheiden, worin dieses absolut nötige soziale Minimum besteht – insbesondere in Anbetracht der Perspektive, dass wir insgesamt mit dieser Pandemie möglicherweise bis zu zwei Jahre lang zu ringen haben werden. Eine vitale Staatsbürgergesellschaft kann das durchhalten – eine Regierung „allein“, ohne genügend Rückhalt in der Bevölkerung, nicht. Kinder beispielsweise, vor allem zwischen drei und sieben Jahren, brauchen – in nüchterner Abwägung aller erheblichen hygienischen Risiken! – spätestens nach sechs Wochen wieder ihre Spielkameraden; zu behaupten, das gehöre nicht zu den absolut nötigen Minimalkontakten, kann nur Menschen einfallen, denen Elternschaft persönlich sehr, sehr fern liegt.
Zur zivilgesellschaftlichen Vitalität und Robustheit gehört bei alledem maßgeblich die Toleranz, dass der andere Mensch – christlich gesprochen mein „Nächster“ – nicht sofort „schlecht“ ist, bloß weil er bei seinem Versuch der Lagebewältigung vielleicht irgendetwas ein bisschen anders macht als ich selbst. Ja, eine robust-vitale Zivilgesellschaft muss es sogar gelassen aushalten und verkraften können, dass es in ihr eine ganze Reihe „schwarzer Schafe“ gibt, die einfach zu ignorant sind, um zu kapieren, worum es gerade geht, und die sich deshalb leider eklatant unzweckmäßig verhalten. Psychologischer Fokus auf das Jagdspiel, solche „Versager“ zu stigmatisieren, lenkt keine Form von seelischer, geistiger und sozialer Energie in irgendeine hilfreiche Richtung.
Was mich in diesem Sinne an Ihrem ARD-Beitrag vom 25.04.2020 am meisten stört, ist, dass der ganze Stil Ihrer Äußerung einer ohnehin drohenden Polarisierung noch Vorschub leistet, die uns als Gesellschaft jetzt gerade am meisten schadet: „Wer nicht Abstand hält und nicht Mundschutz trägt, ist ein Gesellschaftsschädling!“ – es tut mir leid, aber das ist die Botschaft, die für mich aus Ihren Worten „rüberkommt“; und diese Botschaft halte ich im Grunde ihrerseits für schädlich.
Allen Menschen fallen die gegenwärtigen Maßnahmen schwer. Wer sie wirksam propagieren will, der soll mit gutem Beispiel und positiver Ausstrahlung vorangehen – OHNE die an der Vorgabe Scheiternden (warum auch immer Scheiternden) knurrig anzuprangern. Letzteres nämlich fördert nicht jenes Wir-Gefühl, das wir jetzt so besonders dringend brauchen, sondern beschädigt es.
Sie sagten: „Der Grund der Öffnung ist nicht, dass ich mit meinen Wünschen zum Zuge komme. Der Grund dafür ist, dass der wirtschaftliche Kollaps von Einzelhändlern irgendwie vermieden werden muss. Deshalb wird ihnen erlaubt, dass sie ihre Läden wieder öffnen. Und andere zittern weiter.“ Damit haben Sie selbst ja schon implizit eingestanden, dass alle unsere Maßnahmen in dieser Krise an dilemmatische Grenzen stoßen. Die wirklich logische Folgerung aus diesem Eingeständnis kann nur die sein, dass wir alle noch demütiger werden gegenüber der theoretischen und technischen Unlösbarkeit des Corona-Problems. Eine Katastrophe ist eine Katastrophe ist eine Katastrophe. Und die sinnvolle Konsequenz dieser Demut sollte zunehmende Nachsicht mit den Schwächen der Anderen sein, nicht zunehmende Disziplinierungslust.
Als vielleicht rein katholischer Einwand sei zum Schluss noch angefügt, dass die meisten aktiven Katholiken sich vermutlich eher schwer tun werden, den Wunsch nach öffentlichen Gottesdiensten als „egoistisch“ anzusehen – aber das mag auch schlicht den konfessionellen Differenzen in der Sakramententheologie geschuldet sein, in die wir hier nicht eintauchen wollen.
Mit freundlichen Grüßen