Die zehn großen Fragen an Corona

Charles Eisenstein hat einen sehr schönen, aber auch sehr langen Essay zur Analyse der gegenwärtigen Weltlage geschrieben, „Coronation“. Es bedarf freilich einer gewissen Textlänge, nicht bloß Gedanken, sondern ein Lebensgefühl zu transportieren, und darauf kommt es bei Eisenstein an. Dennoch hat er mich inspiriert – zusammen mit all den vielen Anderen, die im Moment Artikel von bis dahin unüblichem Umfang publizieren zu müssen meinen -, die wesentlichen Fragen, die die Coronavirus-Pandemie aufwirft, einmal möglichst knapp als solche, als offene Fragen nämlich, zusammenzufassen:

1. Das Langweiligste zuerst: die Wirtschaft, natürlich. Manchen scheint es immer noch zu verblüffen oder gar zu verstören, aber Beatmungsgeräte, Virus-Testkits und den ganzen übrigen Medizinkram, der in Pandemien umso nützlicher je vorhandener ist, muss man mit Geld kaufen, und dieses Geld muss man sich im Normalfall irgendwie redlich (naja) verdienen. Ich gehöre selber zu denen, die dieses Weltordnungsprinzip in seiner bisher gepflegten Absolutheit höchst kurios finden, dennoch käme ich nie auf die Idee, zu leugnen, dass es hier und jetzt nun einmal so ist, und dass wir unsere jetzigen Covid-Patienten nicht erst in einer besseren Zukunft behandeln können. Also muss die Weltwirtschaft, so sehr sie sich bitte demnächst grundlegend ändern möge, zunächst einmal in wesentlichen Zügen weiterlaufen können. „Lockdown“ ist eine in dieser Hinsicht offenkundig derart gravierend suboptimale Anti-Corona-Maßnahme, dass er die drängende kritische Frage aufwirft, ob und warum intelligentere Optionen vielleicht versäumt oder überhaupt nicht erkannt wurden. Diese Frage enthält auch die sehr schwierige Teilfrage, wie sich globalökonomisch akut rettendes, aber nicht langfristig heilendes „Weiterlaufen“ und langfristig heilende, aber nicht akut rettende „Veränderung“ miteinander vereinbaren lassen.

2. Zum Medizinischen: Höchste Klugheit im Umgang mit Covid-19 kann nur darin bestehen, sokratisch zu erkennen, dass wir so gut wie nichts wissen. Diese Erkenntnis setzt kein Medizinstudium voraus, sondern bloß fünf Minuten Philosophie, idealerweise ergänzt um zehn Minuten Grundkurs soziale Statistik: Wenn man sich einmal mit der interessanten Geschichte der Volkszählungen beschäftigt, stellt man erstaunt fest, dass es gar nicht so leicht ist, in einer überlokalen Größenordnung „Köpfe zu zählen“, obwohl das im ersten Moment so einfach klingt. Zu zählen, wieviele Menschen an einer bestimmten identischen Ursache gestorben sind, ist tatsächlich noch viel, viel schwieriger. Hierzu vorab: Krankenhäuser sind überfüllt mit Menschen augenscheinlich gleicher Diagnose, und die allgemeine Sterberate ist deutlich erhöht. An der realen Existenz einer viralen Pandemie gibt es also keinen sinnvollen Zweifel. Aber diese grundsätzliche Feststellung ist auch absolut das Einzige, was daran klar ist. Wir müssen lernen, uns hierauf zu beschränken, anstatt ständig von einer Basis des Halbwissens aus in eine Wissens-Einbildung auszuschweifen, die weitaus mehr schadet als nützt. Die paar spektakulärsten der bisher bekannt gewordenen Beispiele für Verzerrungen und Verschleierungen der Covid-19-Sterberate sind folgende: (a) Es wurden sehr weitgehend überhaupt nur Probanden mit ungefähr zu passen scheinenden Symptomen getestet, asymptomatische Verläufe sind kaum erfasst. Das verfälscht die Statistik fundamental. (b) Wird ein Patient mit passenden Symptomen erst ein paar Tage nach dem Höhepunkt seiner Symptomatik getestet, kann der Test bei ihm offenbar bereits „falsch“ negativ ausfallen. Wegen Organisationsstau bei den massenhaften Testungen wurden aber sehr viele „einschlägig“ Kranke erst getestet, nachdem sie schon wieder genesen waren. (c) Viele der hochalterigen und schwer vorerkrankten an Covid-19 Verstorbenen hatten Patientenverfügungen, in denen sie eine Beatmung ablehnten; man weiß also nicht, ob sie bei voller Anwendung der medizinischen Möglichkeiten vielleicht hätten überleben können.

3. Die allgemeinen Maßnahmen gegen Covid-19, die im wesentlichen auf Kontaktminimierung beruhen, führen, da Kontaktminimierung Isolation und Vereinsamung nach sich zieht, mit absoluter Sicherheit zu einem statistisch relevanten Anstieg von (a) häuslicher Gewalt, (b) auch ohne häusliche Gewalterfahrung durch die Situation traumatisch belasteten Kindern, (c) Suiziden, (d) Alkoholismus und anderen Formen von Rauschmittelsucht sowie (e) chronischen Erkrankungen mit mutmaßlichem psychogenem Anteil wie etwa kardiovaskuläre Erkrankungen und Krebs, die ohnehin die beiden statistisch führenden gesellschaftsweiten Todesursachen darstellen. Politisch muss die Gesamtheit dieser Maßnahmenfolgen sorgfältig gegen die Todesfälle durch Covid-19 aufgewogen werden. Außerdem sind Viren ein notwendiges Element unseres Mikrobioms, so dass eine Abschottung gegen eine Konfrontation mit ihnen sehr wahrscheinlich bereits mittelfristig verheerende Folgen für unser Immunsystem hat.

4. Wir dürfen als Teil der wenigen gesicherten naturwissenschaftlichen Fakten, die zu Covid-19 Relevanz besitzen, zur Kenntnis nehmen, „dass es in den letzten 17 Jahren nicht gelungen ist, weder eine Impfung, noch einen monoklonalen Antikörper gegen Corona-Viren zu entwickeln; dass es überhaupt noch nie gelungen ist, eine Impfung gegen welches Corona-Virus auch immer zu entwickeln; dass auch die so genannte ‚Grippe-Impfung‘ entgegen der gängigen Werbung nur einen minimalen Effekt ausweist.“ (Prof. Dr. med. Paul Robert Vogt, Zürich) Ebenso rein spekulativ sind derzeit (April 2020) noch alle Annahmen zu einer nach durchgemachter Covid-19-Infektion eintretenden Immunität gegen den Erreger – ganz zu schweigen von der Frage, welches Spektrum dessen nächster Mutanten eine solche Immunisierung mitbetreffen würde. Daraus – aber eigentlich ja schon rein definitorisch aus der Tatsache, dass die WHO Covid-19 offiziell als „Pandemie“ einstuft – folgt, dass es keine Erledigung des Problems innerhalb von weniger als ca. 18 Monaten geben wird. Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen auf bis zu höchstens sechs Wochen Dauer berechneten Maßnahmen und solchen, die sich anderthalb Jahre durchhalten lassen. Je radikaler eine Maßnahme ist, desto weniger lang ist sie durchhaltbar. Der „lange Atem“ der Maßnahmen ist bei einer Pandemie das Wichtigste. Schon allein von daher sind alle Fürsprecher radikaler und einseitiger Maßnahmen grundlegend zu kritisieren.

5. Sehr wahrscheinlich werden wir auch rückblickend nie zu einem Konsens über eine objektive Beurteilung der gegenwärtigen Pandemie gelangen, denn wenn sie leichter verläuft als erwartet, werden die Einen sagen, das habe daran gelegen, dass sie eben nicht so gefährlich war wie prognostiziert, während die Anderen sagen werden, es habe daran gelegen, dass die Maßnahmen wirksam waren; sollte sie aber schwerer verlaufen als erwartet, werden die Einen sagen, dass die Maßnahmen nutzlos waren, während die Anderen sagen werden, dass die Maßnahmen eben nicht diszipliniert genug befolgt oder nicht resolut genug durchgesetzt wurden. Damit erscheint sehr fraglich und offen, was wir als Gesellschaft aus der Erfahrung dieser Pandemie wirklich werden lernen können.

6. Notfallmaßnahmen haben auf politischer Ebene generell die Tendenz, als vorübergehende zu kommen und für immer zu bleiben. Wenn man das eine Verschwörung nennen möchte, dann ist es jedenfalls die älteste und simpelste Verschwörung der Menschheitsgeschichte: die Logik der Angst. Sie raubt uns so viel Lebensqualität, dass das Wachstum an Weisheit Menschen zu allen Zeiten immer dahin geführt hat, die Logik der Angst aufzugeben und bewusst lieber mit der Unsicherheit und Gefährlichkeit zu leben, die zum Leben gehört – und auch mit dem (sogenannten) Tod, der zum Leben gehört. Werden wir es als Gesellschaft schaffen, diese weise Haltung (wieder) einzunehmen? Oder bleiben wir in der Logik der Angst gefangen? Was passiert dann? „Safety first“ ist eine zutiefst leblose Maxime. „Ein gerettetes Leben meint zunächst einmal nichts weiter als einen aufgeschobenen Tod.“ Das heißt, jede Lebensrettung muss zusätzlich mit Sinn gefüllt werden, sie füllt sich nicht aus sich selbst mit Sinn. Wo wir Freiheit, Vergnügen, Abenteuer, Spieltrieb und Grenzerfahrungssuche „hygienisch“ ausschließen, wird es für den Sinn des Lebens eng.

7. Das deutsche Grundgesetz kennt zwischen Grundrechten keine Hierarchie, „Schutz des Lebens“ darf nur dann punktuell anderen Grundrechten übergeordnet werden, wenn eine Perspektive auf Lebensrettung situativ sehr direkt und sehr konkret ist. Das ist bei der Zielangabe „flatten the curve“ nicht der Fall, sie ist eindeutig statistisch-abstrakt. Dies ist jedoch ganz klar die einzige seriöse Zielangabe aller staatlichen Maßnahmen gegen Covid-19, da sich eine Lebensrettung im individuellen Einzelfall aufgrund der kategorischen Komplexität von Vorgängen der Inneren Medizin ebenso kategorisch niemals überzeugend argumentativ darstellen lässt. Die leicht nachvollziehbare juristische Logik dahinter ist, dass eine Zulässigkeit des Argumentierens mit Eventualitäten allzu leicht beliebigen Suspendierungen von Grundrechten Tür und Tor öffnen würde, nämlich mit der beliebigen Begründung, es „könnte ja vielleicht irgendwie irgendwo“ dadurch ein Leben gerettet werden. Die Absicht unserer Verfassung, derlei missbräuchliche Argumentationsweisen auszuschließen, ist unmissverständlich. Einem staatlichen anti-pandemischen Maßnahmenpaket andere Grundrechte unterzuordnen ist also in Deutschland verfassungswidrig und auf Dauer verfassungsschädigend, also massiv gesellschaftsschädigend.

8. Jeder projiziert in die gegenwärtige Pandemie sein persönliches Lieblingsthema hinein. Pandemien, obwohl sie sich für den einzelnen Menschen bis zu einem gewissen Grad immer als „schwarze Schwäne“ im Sinne der bekannten Theorie von Nassim Nicholas Taleb ereignen, sind Routinen der Geschichte. Der Blick des postmodernen Historikers lehrt: Manchmal wurde nach Epidemien vieles anders – manchmal nicht ganz so vieles. Außer dem Virus bestimmen immer noch eine Menge anderer Faktoren das politische, gesellschaftliche und kulturelle Outcome eines solchen Ereignisses mit. Solange die Sterberaten weit entfernt sind (und das sind sie gegenwärtig) von denen der Pest von 1349, nach der schlicht die Arbeitskräfte zum Aufrechterhalt des gewohnten Gesellschaftsbetriebs fehlten, gibt es keine gesellschaftsverändernden Konsequenzen, die eine Pandemie zwingend zeitigen müsste; deshalb sollte man sich mit ideologischen Betrachtungsweisen zurückhalten. Pandemien der heutigen Größenordnung (Stand April 2020), die die häufigsten waren, scheinen bisher auch unter noch labileren Gesamtumständen, als sie derzeit herrschen, langfristig kaum je wesentlich in die Weltgeschichte eingegangen zu sein. Selbst die Spanische Grippe von 1918, die die Menschheit am vulnerablen Ende des Ersten Weltkriegs traf und deren Erreger offensichtlich tödlicher war als Covid-19, hat die Weltgesellschaft wohl nicht so nachhaltig reformierend beeinflusst, wie es viele Visionäre sich heute von Corona erhoffen.

9. Es ist ein aus der Geschichte bestens bekanntes Muster, dass Diktatoren äußere Feindbilder brauchen, um ihre Domäne im Inneren zusammenzuhalten. Auch ein Virus vermag diese Feindbildfunktion perfekt zu erfüllen. Manchmal ist nicht der Diktator zuerst da, sondern das geeignete Feindbild – „Gelegenheit macht Diebe“. In meinem Land gibt es momentan zwar keine ernstzunehmenden Diktator-Kandidaten. Aber wieder empfehle ich den Blick des Historikers, um nicht zu unterschätzen, wie schnell sich derlei unter ungünstigen Umständen ändern kann. Auch dieses Gefahrenpotential ist beim politischen Umgang mit einer Epidemie stets klug mitzubedenken. Wir sollten für diesen Punkt spätestens dann erhöht aufmerksam werden, wenn uns klar wird, dass auf der Erde gleichzeitig um ein Vielfaches tödlichere Pandemien als Covid wüten, über die wir uns keine vergleichbaren Gedanken und Sorgen machen: Hunger und Überernährung, Depressivität und Suizidalität, nukleares Wettrüsten und Naturzerstörung. Warum bekümmert uns all das so viel weniger? Simple Antwort: Weil es sich nicht als griffiges äußeres Feindbild eignet, gegen das man überzeugend eine vermeintlich wirksame Waffe beschwören kann.

10. Covid erlaubt uns strukturell keine befriedigenden Antworten auf die Fragen, vor die es uns stellt, ohne dass wir uns Rechenschaft geben über unser ganz grundlegendes Verhältnis zum Tod, und damit zum Leben. Ohne eine spirituelle Dimension ist folglich kategorisch keine sinnvolle Antwort auf die Covid-Herausforderung denkbar, und auf überhaupt keine Pandemie. Wir aber haben unsere Kirchen im März 2020 sofort und kompromisslos geschlossen und diskutieren eher über das Wiedereröffnen von Kindergärten als über das von Kirchen. Hierin drückt sich ein wahrer geistiger Kern unserer gesellschaftlichen Hilflosigkeit gegenüber Covid aus. Eine mir befreundete Pflegefachkraft brachte das so auf den Punkt: „Die Bewohner unserer Pflegeheime haben gerade die größte Lobby, die sie je hatten; ich prophezeie, wenn die Pandemie vorbei ist, wird unsere Gesellschaft sich um das Elend ihrer Alten in den Heimen wieder genauso wenig kümmern wie vorher – aber sterben, nein, sterben dürfen sie nicht!“

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