Mein Beitrag zu einem E-Mail-Adventskalender: Ochs und Esel an der Krippe

Ochs und Esel stehen nirgendwo im Evangelium.

Aber sie hätten drin sein können.

Denn sie sind keineswegs bloß ein mehr oder weniger beliebiges Bild für oberflächliche Gemütlichkeit. Sie sind vielmehr genau so entstanden, wie ein großer Teil aller Geschichten im Evangelium entstanden ist: als hintersinnig abgewandelte Zitate aus der älteren Bibel. Definitiv ist die ganze Weihnachtsgeschichte des Lukas auf diese Weise entstanden. Im Adventskalender vom letzten Jahr habe ich das bereits hinsichtlich der Hirten aufgezeigt. Dieses biblische Muster hat viele Facetten; vielleicht gehe ich im nächsten Jahr noch auf weitere davon ein. Aber in diesem Advent soll es mir um Ochs und Esel gehen – und die passen tatsächlich ebenfalls genau in das erwähnte biblische „Herstellungsmuster“.

Viele wissenschaftliche Bibelforscher meinen heute, dass die Texte des Neuen Testaments noch relativ lange Gelegenheit hatten, die eine oder andere Veränderung zu erfahren, nämlich noch mindestens bis ungefähr um das Jahr 200 unserer Zeitrechnung herum. Nur ungefähr 150 Jahre später taucht in der bildenden Kunst dann bereits die früheste uns bekannte Darstellung von Ochs und Esel an der Krippe Jesu auf, nämlich auf einem Sarkophag in der Basilika Sankt Ambrosius in Mailand. Angesichts dieses relativ kurzen zeitlichen Abstands muss man wohl sagen: Ochs und Esel hätten tatsächlich durchaus noch hinein gelangen können ins Weihnachtsevangelium.

Die durchaus zahlreichen Stellen in der älteren Bibel, auf welche der Ochs und der Esel der alten Weihnachtstradition sich höchst sinnvoll beziehen oder beziehen können, konzentrieren sich auf die Kapitel 21 bis 23 des Buches Exodus. Diese Kapitel bilden das sogenannte „Bundesbuch“, die mutmaßlich älteste Fassung des Gesetzes Israels. Unmittelbar davor, in Kapitel Exodus 20, sind Ochs und Esel bereits in die Zehn Gebote eingegangen, die als eine später entstandene, dem Bundesbuch dann vorangestellte Zusammenfassung besonders wichtiger und grundlegender Vorschriften zu verstehen sind. In Exodus 20,17 werden Ochs und Esel bekanntlich unter den Besitztümern des Nachbarn aufgezählt, die man nicht begehren darf. An der Krippe Jesu könnte dieser Bezug vielleicht heißen, dass dieses Kind alle unsere Bedürfnisse stillt.

„Wenn jemand einen Brunnen offen lässt oder einen Brunnen gräbt, ohne ihn abzudecken, und es fällt ein Rind oder ein Esel hinein, dann soll der Eigentümer des Brunnens Ersatz leisten.“ (Exodus 21,33) Vielleicht wurde das auf die Erlösungsfunktion Jesu bezogen: Die Menschheit ist wie das in den Brunnen gefallen Tier, und Jesus ist der Ersatz, den Gott dafür leistet. Direkt anschließend geht es im Bundesbuch allerdings darum, dass ein Dieb Ersatz leisten muss: „Findet man das Gestohlene, sei es Rind, Esel oder Schaf, noch lebend in seinem Besitz, dann soll er doppelten Ersatz leisten.“ (Exodus 22,3) Und dann folgt noch zweimal eine analoge Auflistung anlässlich des Themas Veruntreuung. Damit würde die obige Interpretation Gott also irgendwie zu sehr in die Nähe eines Diebs oder Betrügers rücken. Ich weiß nicht, ob trotzdem irgendwann einmal so interpretiert wurde – dass also die Weihnachtskrippe mit Exodus 21,33 in Verbindung gebracht wurde -, denn die Theologie früherer Zeiten kann ja manchmal heute durchaus seltsam anmuten; ich überlasse es also meinen geschätzten Leserinnen und Lesern, sich selbst einen Reim auf diese Deutungsmöglichkeit zu machen.

Eine etwas andere Bedeutung von Ochs und Esel findet sich dann in Exodus 23,4: „Wenn du dem verirrten Rind oder dem Esel deines Feindes begegnest, sollst du ihm das Tier zurückbringen.“ Dieser Bezug eignet sich natürlich schön für das Friedens-, Vergebungs- und Versöhnungsmotiv der Weihnachtsszene.

Exodus 23,12 schließlich schärft das Sabbat-Gebot ein: „Sechs Tage kannst du deine Arbeit verrichten, am siebten Tag aber sollst du ruhen, damit dein Rind und dein Esel ausruhen und der Sohn deiner Sklavin und der Fremde zu Atem kommen.“ Jesus als der Bringer des Welt-Sabbat, welcher von nun an in gewissem Sinne für immer andauern wird, und der somit die Verurteilung Adams aufhebt, zu dem einst so düster gesagt worden war: „Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zum Erdboden zurückkehrst; denn von ihm bist du genommen, Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück“ (Genesis 3,19), was natürlich zugleich auch das Motiv der Hoffnung auf das Ewige Leben in diese ultimative Sabbat-Vorstellung einbezieht – das ergibt zweifellos eine Menge tiefen theologischen und spirituellen Sinn im Stall zu Bethlehem.

Der erste der offenbar drei Verfasser des Jesajabuches gehört zweifellos zu den älteren Autoren unserer Bibel; trotzdem ist das Bundesbuch vermutlich ein noch älterer Text als der des „Ersten Jesaja“ und inspirierte diesen, als er schrieb: „Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht.“ (Jesaja 1,3) Leider muss es aus historisch-kritischer Sicht als sehr wahrscheinlich bezeichnet werden, dass es gerade dieses polemische Jesaja-Zitat war, das tatsächlich am meisten zur Entstehung und zum „Erfolg“ der traditionellen Weihnachtsszene mit Ochs und Esel beigetragen hat – eine Bezugnahme, die irgendwann im Laufe der Zeit zweifellos auch eine regelrecht antisemitische Bedeutung annahm.

Aber das geschichtlich Gewesene verdammt uns eben nicht dazu, immer weiter auf Irrtümer aufbauen zu müssen, die einst begangen wurden. Das wäre ein falsches Verständnis von „Tradition“. Die Zäsur, die Jesus in die Menschheitsgeschichte gebracht hat, bedeutet nach meinem Verständnis gerade eine höchst lebendige Flexibilität in der Art und Weise, auf die wir das Verhältnis zwischen Vergangenem und Zukünftigem immer wieder ganz neu bestimmen können.

Konkret heißt das in diesem Fall: Wir können uns das traditionelle Bild von Ochs und Esel an der Krippe Jesu bewahren, sogar auf eine vertiefte Weise, und wir können uns zugleich aus dem Reichtum der biblischen Bezüge dieses Bildes heraus eine sinnvollere Deutung dieses Bildes formen als jene, die in der Geschichte der Kirche insgesamt möglicherweise vorgeherrscht haben mag.

Dies ist meines Erachtens die Art und Weise, auf die wir überhaupt und generell mit der Tradition der Kirche umgehen sollten.

Ich wünsche Euch allen eine schöne Adventszeit und ein frohes Weihnachtsfest.

Kommentare sind geschlossen.

Zur Werkzeugleiste springen