David W. Bebbington hat als eines der vier zentralen Wesensmerkmale des Evangelikalismus dessen sozialen, solidarisch-wohltätigen Aktionismus hervorgehoben. Dem schroff entgegen steht das heutige liturgie-zentrierte Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche. Stellen wir also die „Gretchen-Frage 2.0“: Was soll ein guter Christ denn nun wirklich an erster Stelle tun – an gottesdienstlichen Feiern teilnehmen oder karitativ-fürsorglich gegenüber anderen sein?
Um ein klitzekleines Bisschen auszuholen: In einem Zusammenhang, in dem es von hoher Wichtigkeit ist, dass zwei plus zwei vier ergibt, tut es das nicht auf eine andere Weise als in einem Zusammenhang, in dem es auf dieses Rechenergebnis weniger ankommt. Es ergäbe keinen Sinn zu sagen: In einem technischen Zusammenhang ist zwei und zwei vier, weil das dort wichtig ist – unter anderen Umständen aber, zum Beispiel in einem historischen Zusammenhang, könnte zwei plus zwei auch etwas anderes ergeben. Nein, es ergibt immer vier. Ähnlich verhält es sich mit der Relevanz der Priorisierung zwischen Liturgie und Diakonie als Wesenszeichen des Christentums aus spiritueller Sicht. Aus spiritueller Sicht ist tatsächlich relativ „egal“, ob ein Christ sein Weltverständnis mehr auf die eine oder mehr auf die andere Weise ausdrückt – denn gerade durch diese Gleichgültigkeit wird ja die tiefe Wahrheit bezeugt, dass alles immer unmittelbar vom Wirken der göttlichen Gnade abhängt.
Und dennoch bleibt unabhängig davon wahr, dass Diakonie wichtiger ist als Liturgie, weil sie für die Mitmenschen, die „Nächsten“ des Christen wichtiger ist. Wir sind nicht dazu bestimmt, auf uns selbst bezogen zu sein.
Die Entscheidung über das je eigene Tun hat allerdings die „Berufungsethik“ zu liefern (ein Konzept, das ich an anderer Stelle eingehend entwickelt habe). Es mag einzelne geben, die sich als Christen mehr zur Liturgie als zur Diakonie berufen fühlen, und dann ist das auch legitim; und wenn Gott wollte, könnte er zweifellos machen, dass das auf die Mehrheit der Christen zutrifft.
Dass er das aber nicht will, ist nicht nur eine Beobachtung an der Lebenswirklichkeit einer überwältigenden Mehrheit aller Christen, sondern geht auch schon aus dem Auftreten der Propheten der vorchristlichen Bibel deutlich hervor. Insofern wäre eine Kirche klar auf dem Irrweg, wenn sie sich als religiöse Institution explizit und verbindlich über einen Primat des Liturgischen definieren würde.
Das ist auch in der katholischen Kirche nicht der Fall. Es handelt sich bei ihrem vermeintlichen Liturgie-Primat um eine verbreitete Fehl-Auslegung der kirchlichen Lehre, nicht um das, was wirklich in ihren älteren lehramtlichen Dokumenten steht – auch wenn diese Fehlauslegung oft genug sogar von Vertretern ihres Lehramtes selbst forciert wurde. Sowohl „Sacrosanctum Concilium“ als auch CIC 1983 Can. 834 § 1 klingen so, als ließe sich schwerlich etwas anderes als ein klarer absoluter Vorrang der Liturgie im Wesen der römisch-katholischen Kirche aus ihnen herauslesen. Aber diese beiden Texte stammen von 1963 und 1983, und kein älterer lehramtlicher Text der katholischen Kirche hat sich diesbezüglich je so weit „aus dem Fenster gelehnt“. So enthält beispielsweise das überaus maßgebliche Eucharistie-Dekret des Konzils von Trient (1551) noch keinerlei Aussagen zu diesem Thema, und ebensowenig tun das die Dekrete desselben Konzils über Rechtfertigung und Sakramente von 1547. Es war erst Pius IX., der auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1869/70 mit der heutigen extremen abstrakten Selbst-Dogmatisierung der „römisch“-katholischen Kirche begonnen hat. Darin sind leider starke Züge einer fortschreitenden Fehlentwicklung zu erkennen, gegen die das Gewicht von mindestens anderthalb Jahrtausenden älterer, tatsächlich „pluralistischerer“ Kirchengeschichte steht.
Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung ist meines Erachtens in institutionell-kirchlichem Machtstreben zu sehen. Eine Kirche, die Liturgie als ihre Mitte definiert, hat mehr amtliche Kontrolle über das Leben ihrer einzelnen Gläubigen als eine Kirche, die ihre Mitglieder vorrangig in die sehr vielfältigen Erfahrungsfelder der praktischen Mitmenschlichkeit aussendet. Solange die Kirche weltliche Macht hatte, interessierte sie sich noch nicht für den Gedanken „psychosozialer“ organisierter Autorität über ihre Anhänger. Letztere Idee wurde erst relevant, als die Kirche ihre weltliche Macht verlor. Das Erste Vatikanische Konzil fasste seine (von Pius IX., wie Hubert Wolf eindrucksvoll geschildert hat, nahezu „erpressten“) Entschlüsse in demselben Jahr 1870, in welchem dem Papst der Kirchenstaat sozusagen unter dem Thron Petri weggezogen wurde. Seitdem wurde für den katholischen Klerus die Frage brennend relevant, auf welche Weise die Kirche eigentlich „herrschen“ kann. Zu ihrer Antwort gehörte, das gesamte Gottesvolk durch Einschwören auf einen so zuvor theologisch nie dagewesenen Liturgie-Zentrismus vom Walten der klerikalen Amtsträger abhängig und somit diesen hörig zu machen.
Der Erfurter Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann hat in der „Herder Korrespondenz“ 5/2019 einen bemerkenswerten Artikel darüber veröffentlicht, dass der zu Missbräuchlichkeiten verschiedenster Art neigende Klerikalismus seine Wurzeln und Quellen auch und gerade in der Liturgie habe. Was ich hier schreibe, leuchtet sozusagen die weiteren kirchenhistorischen Zusammenhänge dieser Beobachtung aus.
Fazit: Eine „berufungsethische“ primär liturgische Daseinsbestimmung eines einzelnen Katholiken kann und darf sich sozusagen gegebenenfalls immer nur „ausschlussdiagnostisch“ herausstellen (vom Protestantismus unterscheidet den Katholizismus in dieser Hinsicht nur, dass ein individueller Liturgie-Primat überhaupt möglich ist); auch Katholiken müssen sich als ernsthafte Christen in erster Linie darüber Gedanken machen, wie sie ihren Mitmenschen in deren jeweiligen echten Bedürfnissen, Sorgen und Nöten im Sinne der von Jesus in den Vordergrund gestellten Nächstenliebe konkret dienlich und nützlich sein können.
Wäre es anders, könnte man sich das ohnehin drohende Verschwinden der römisch-katholischen Kirche für meinen Geschmack ehrlich gesagt gar nicht schnell genug herbeiwünschen.