Des kleinen Coronas Gespür für Größenwahn

„Plötzlich“: Großer Boom der Corona-Verschwörungstheorien!

Ein sehr wesentlicher Teil dieser gegenwärtigen Krise, vielleicht der eigentliche, steht uns überhaupt erst noch bevor. Allein die rein medizinischen Implikationen sind noch nicht ausgestanden; die ebenso unvermeidlichen wirtschaftlichen Folgen haben noch gar nicht richtig zugeschlagen – von den politischen oder gar den gesellschaftlichen und kulturellen Konsequenzen ganz zu schweigen. All das kommt erst noch. Die Einen üben sich dieser Absehbarkeit gegenüber derzeit in frühlingshaft-heiterer Verdrängung – und die Anderen, bei denen es mit dem Verdrängen nicht klappt, die verschwören.

Es ist eine typische Folge der Schwierigkeiten, die die meisten Menschen mit konstitutiv zweischneidigen Wahrheiten haben: Sie fühlen den Drang, sich für eine Seite einer zweiseitigen Wahrheit zu entscheiden – und um das zu können, müssen sie die Seite, für die sie sich nicht entscheiden, aggressiv verleugnen; denn nur so können sie sich selbst zum betäubenden Vergessen der Tatsache zwingen, dass ihre betreffende Glaubensentscheidung völlig willkürlich ist. Wer sich entscheidet, vor dem Coronavirus eine alles beherrschende Angst zu haben, der muss zwanghaft alle verdammen, die weniger Angst zeigen; und wer sich entscheidet, keine Angst zu haben, der muss reflexartig alle Ängste als von schurkischen politischen Absichten gelenkt abtun, um seine eigene instabile, weil nicht wirklich tief gegründete Furchtlosigkeit vor sich selbst überhaupt zu rechtfertigen.

Das derzeit allgegenwärtige Verschwörungs-Geraune ist der charakteristische Vorbote des nächsten Kapitels der Krise, in dem das Medizinische in den Hintergrund tritt. Wer ein bisschen Ahnung von Geschichte hat, der dürfte sich darüber kaum wundern. Freilich, Ahnung von Geschichte als Allgemeinbildungsgut hat in den letzten Jahrzehnten sicherlich nicht zugenommen. Dass unsere gegenwärtige Situation ein Hinweis darauf ist, dass es für eine Gesellschaft von sehr konkretem Wert sein kann, eine breite Geschichtsbildung wach zu halten, und dass dieser Wert zuletzt arg unterschätzt wurde, bildet hier allerdings nur ein Randthema.

Das Verblüffendste dieser Tage ist nicht, dass auch sogenannte „intelligente“ Menschen derzeit der Verschwörerei erliegen – zur Immunisierung dagegen braucht es mehr als ein bloß „technisch“ intelligentes Gehirn, dazu braucht es eine gereifte Persönlichkeit, und Persönlichkeitsreife ist etwas noch bedeutend Komplexeres als binomische Formeln. Das Verblüffendste ist, dass sogar Menschen, die nachweislich hohe (Standard-)Intelligenz UND zusätzlich auch noch individuelle Merkmale aufweisen, die eigentlich auf beträchtliche Persönlichkeitsreife schließen lassen sollten, derzeit verschwörungstheoretische Pamphlete unterschreiben.

Dass ein Attila Hildmann, ehemaliger Star der Vegan-Bewegung, der zwar zweifellos im herkömmlichen engen Sinne hinreichend intelligent ist, aber schon seit jeher Zeichen einer stark unausgeglichenen Persönlichkeit gezeigt hat, jetzt wegen corona-bedingter Anstiftung zum Aufruhr von der Polizei abgeführt wurde, sollte nicht übermäßig verwundern. Dass allerdings Kardinäle der römisch-katholischen Kirche wie Gerhard Ludwig Müller, ehemaliger Präfekt der Glaubenskongregation (und mein noch ehemaligerer Dogmatik-Prüfer), gerade einen Text mitunterzeichnet hat, in dem unverhohlen über unlautere politische Neben- und Hinterabsichten der weltweiten staatlichen Maßnahmen gegen das Coronavirus gemunkelt wird, das ist schon wirklich deprimierend.

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