„Was wäre, wenn…?“

Alle großen spirituellen Meister lehren es, und auch schon jeder beliebige bescheidene, aber echte Meditationslehrer sagt es: „Nicht denken!“

Ich bin überzeugt, an diesem richtigen Prinzip gäbe es eigentlich ein weites Feld an Differenzierungen vorzunehmen. Man könnte, sollte, müsste verschiedene Arten von Gedanken bestimmen und deren spirituellen Energiegrad jeweils einzeln untersuchen. Der spirituelle Sinn oder Unsinn eines bestimmten Gedankens hängt dabei freilich immer von der einen, selben Voraussetzung ab, inwieweit ein Mensch bereits ein „Grund“- und „Gesamt“-Bewusstsein entwickelt hat, das an sich nicht gedanklich ist. Insofern haben all die mehr oder weniger prominenten Spiritualitäts- und Meditationslehrer natürlich grundlegend recht mit ihrer vorherrschenden simplen Empfehlung, „nicht zu denken“. Genauer gesagt: Alles Weiterführende thematisieren sie zurecht nicht in ihren öffentlichen Vorträgen für „Anfänger“. Zunächst einmal ist zweifellos ein grundlegendes nicht-gedankliches Bewusstsein erforderlich – dieser „Gedanke“ ist den meisten Menschen schon fremd genug. Und deshalb mache auch ich selbst mir nicht die Mühe, die empfohlene differenzierte Gedankenarten-Analyse tatsächlich durchzuführen, sondern beschränke mich darauf, auf ihren potenziellen Sinn hinzuweisen. (Wenn die Philosophie mal so weit ist, dass sie sich – wieder – mit Spiritualität befasst, dann wird das eine genau passende Aufgabe für Philosophen sein.)

„Was-wäre-wenn“-Gedanken zum Beispiel können hilfreich sein für diejenigen, die schon ein gewisses Maß an echt spirituellem Bewusstsein entwickelt haben – aber nicht für all jene, auf die das noch nicht zutrifft. Für die Spirituellen sind die „WWW“s (potenziell) eine in ihrer spekulativen Dynamik bewusst im Zaum gehaltene Meditation, die ihr Bewusstsein insgesamt schärft. Für geistig anders Disponierte hingegen sind sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ein fieser Seelen-Torpedo. Spirituelle haben in dieser Welt nicht den Auftrag, Torpedos zu starten. In diesem Sinne bitte ich alle Nicht-Spirituellen, von den folgenden Gedanken mindestens einsfünfzig Abstand zu halten:

Was wäre, wenn jetzt (Perspektive Mai 2020; sagen wir, Anfang Juni 2020) die – der Definition „Pandemie“ gemäß ja ganz unvermeidliche – zweite Welle des Coronavirus anbrandet und sich nicht als eine, wie wir alle hoffen, abgemilderte, sondern als ein Ereignis von beträchtlicher medizinischer Wucht herausstellt? Wenn all die derzeit gerade dem (posttraumatischen) Verschwörungswahn Verfallenen sich einer abrupten Wieder-Verschärfung der soeben in gnädiger einstweiliger Lockerung befindlichen staatlichen Anti-Virus-Auflagen aggressiv zu widersetzen beginnen und in diesem Zusammenhang vielleicht erste Schüsse aus Polizeipistolen fallen? Autsch. Wenn die Börsenkurse wieder Skispringen gehen – aber am Ende der Schanze keine staatlichen Geldsäcke als sturzpolsternder vergoldeter Kunstschnee mehr auf sie warten, weil dafür dieses zweite Mal keine neuen Milliardenressourcen mehr locker verfügbar sind, da inzwischen auch all unsere potenziellen ausländischen Gläubiger begriffen haben, dass sie uns nichts mehr leihen können; und wenn wir nicht mehr wissen, wo wir im Ausland einkaufen sollen, was unser Lebensstandard so dringend benötigt, und auch nicht mehr, wer uns unsere teuren Exporte abkaufen soll? Autsch. Und wenn sich genau dann auch noch unsere Krankenhäuser stärker mit Atemnötigen füllen als bei der in Deutschland unverhältnismäßig gnädig abgelaufenen ersten Welle?

Dieser spekulative Gedanke, den der „spirituelle Denker“ nüchtern als eine sehr „realistische Spekulation“ erkennt, und die für ihn zuverlässig den direkten Zweck erfüllt, seinen Geist sehr demütig, sehr still und sehr präsent zu machen, ist für all diejenigen, die noch kein ernstzunehmendes Verhältnis zu echter Spiritualität entwickelt haben, stattdessen eine hässliche Zumutung, die projektive Panikgefühle auslöst – ein psychomentales (und in der Folge auch soziales) Syndrom, das man ihnen nicht absichtlich zumuten muss; sie werden auf einen solchen Gedanken bloß mit Ärger reagieren, mit ihrem typischen „Was soll das?“, das sie erzürnt aufbrausend gegen alles schleudern, was sie partout nicht hören wollen. Mit welchem Recht will man ihnen Stiche versetzen, als gäbe es eine moralische Berechtigung zu nicht bloß streng situativen, sondern pauschalen Provokationen?

Liebe Spirituelle, lasst es bleiben – ihr müsst Menschen, die noch nicht an eurem Punkt der spirituellen Entwicklung angekommen sind, solche „brennbaren“ Gedanken nicht zumuten. Sie überfordern sie. Diese müssen erst einmal die grundlegende Lektion von der generellen Bevorzugbarkeit des Nicht-Denkens lernen. Nur diese fundamentale Einsicht bildet die sinnvolle Grundlage dafür, gewisse Gedanken nicht nur spirituell schadlos, sondern sogar spirituell fruchtbringend denken zu können. Diese Feststellung hat nichts mit einem pseudo-spirituellen Hochmut zu tun, es ist einfach so. Wer noch ganz und ausschließlich am Denken hängt (oder vielmehr an der Illusion des Denkens), für den können manche Gedanken regelrecht tödlich sein, und man muss sie deshalb nach Maßgabe seiner gegebenen geistigen Situation zu seinem eigenen Wohl möglichst von ihm fern halten.

Es gibt Geschichten, in denen spirituelle Meister Gift schlucken, und nichts passiert. Diese Geschichten sind vorwiegend symbolisch zu verstehen. Nie wird darin den Schülern empfohlen, das Giftschlucken ebenfalls zu versuchen.

Hoffen wir auf eine milde zweite Welle.

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