Zum Tod von Helmut Schmidt

Helmut Schmidt war mir, wie so vielen, immer „irgendwie“ sympathisch. Ich kann diese Sympathie nicht genau erklären. Er war gerade Kanzler geworden, als ich geboren wurde. Mit meinem erwachenden gesellschaftlichen Bewusstsein rückte er in den Rang des Ex-Kanzlers auf und begleitete mich von dort aus mehr als drei Jahrzehnte lang. Mir gefielen sein nüchterner Humanismus, der zu einer kühl, aber verlässlich wirkenden hanseatischen Menschenliebe keinerlei Idealismus zu benötigen schien, die Klarheit und Präzision seiner Rede und seine eigensinnige, charakterköpfige Bildungsaura, und mir imponierte sein offiziersaristokratischer Habitus der Pflichterfüllung („er sei nicht sonderlich gern Kanzler gewesen und außerdem während seiner Amtszeit ungefähr hundert Mal bei offiziellen Anlässen wie beispielsweise Bundestagsdebatten infolge seines Herzrhythmusleidens kurzzeitig bewusstlos geworden“) einschließlich souveränem völligem Ignorieren der Tatsache, dass ihn in seinen politischen Aktivitäten kaum jemand in Deutschland so wenig mochte wie seine eigene Partei, deren Vorsitzender er nie wurde. Bereits 2011 führte die FAZ ein Interview mit Helmut Schmidt über „die letzten Dinge“, das sie sich zum Anlass seines Todes vier Jahre lang aufgehoben hat (weit vorausblickender Journalismus!). Darin sagt der Altkanzler:

„Die Vorstellung, dass es Dinge gibt, die wir nicht begreifen, und dass sie möglicherweise zusammenhängen, wird es immer geben, und bei primitiveren Geistern besteht nun einmal das Bedürfnis, diese Vorstellung eines Zusammenhangs zu personifizieren. (…) Im Christentum steckt eine Reihe von seltsamen Phänomenen. Das Christentum bildet sich ein, eine monotheistische Religion zu sein, ist es aber gar nicht. Jesus Christus ist viel wichtiger als der liebe Gott. Und außerdem gibt es noch einen Heiligen Geist – den hat Jesus Christus nicht erfunden, den hat ein Konzil erfunden. Und neben dieser heiligen Dreieinigkeit gibt es noch die Gottesmutter Maria, die in Polen viel wichtiger ist als Jesus und als der liebe Gott. Der Monotheismus ist eine Selbsttäuschung. Das glaubt der Ratzinger, aber der auch nicht ganz. Es ist auch eine Selbsttäuschung der Protestanten. Die alten Griechen waren da viel ehrlicher, die haben gleich viele Götter erfunden. Und nicht bloß vier. Wie die Jungfrau zum Kind gekommen ist, kann kein Christ wirklich glauben. Aber es wird gelehrt. Und keiner glaubt es. Das sind sehr seltsame Dinge. Es wird gelehrt kraft Autorität, kraft institutionalisierter Autorität. Und natürlich muss auch ein Theologiestudent, der die Hoffnung hat, Gemeindepfarrer und später Propst und noch später Bischof zu werden, so tun, als ob er es glaubt.“

Das Schmidt-Typische dieser Äußerungen scheint mir in der korrekten Faktizität reproduzierten Wissens bei völlig fehlender Kapazität zu einer „trans-materialistischen“ Wertung der betreffenden Wissensinhalte zu liegen. Der lateinische Ursprung des Wortes „Person“ bezeichnet die Maske des antiken Schauspielers, durch die dessen Stimme hindurch klingt (per-sonare). Die theologische Aussage über die „Personalität Gottes“ von dieser Erkenntnis her gründlicher und existenzieller zu reflektieren, wäre Helmut Schmidt nie in den Sinn gekommen – ebenso wenig wie die Möglichkeit, dass der Sinn von Religion sich womöglich doch nicht ganz in der bloßen sozio-kulturellen Dynamik von klerikalen Karrieren erschöpfen könnte.

„Die Aufgabenteilung zwischen Politik und Religion ist so alt wie die christliche Kirche. Der Papst auf der einen, der Kaiser auf der anderen Seite. Es war immer ein Kampf zwischen beiden Autoritäten. Ganz anders im Islam. Da hat es den Kampf zwischen diesen beiden Autoritäten nicht gegeben. Der Kalif verkörperte beide Autoritäten, ob es der Kalif in Bagdad war oder der andere in Córdoba. Im Konfuzianismus, den ich mehr für eine Weltideologie halte als für eine Weltreligion, hat es diese Dichotomie auch nicht gegeben. Sie ist ein Spezifikum der Europäer und Nordamerikaner. Eine der großen Schwächen des Christentums. (…) Ich wäre glücklich, wir hätten eine Staatsphilosophie wie die Chinesen, wo es diesen Zwiespalt nicht gibt, wo aber auch der Kaiser, der oben darüber schwebt, ob es ein Mandschu ist oder ein Han-Chinese oder ein mongolischer Kaiser, der die Chinesen beherrscht, Pflichten hat und vom Himmel abgerufen werden kann. Aber wer der Himmel eigentlich ist, das bleibt ganz unklar, ganz nebulös. Es gibt keine Riten, und für den Himmel werden auch keine Tempel gebaut. Er wird auch nicht verehrt. Der Kaiser wird verehrt, aber der Kaiser ist dem Himmel unterworfen. So eine Staatsphilosophie ist in meinen Augen dem ewigen Krieg der Europäer gegeneinander durchaus vorzuziehen.“

Dieser Standpunkt verkennt völlig, dass die Wiedervereinigung von Religion und Politik nach antikem Muster notwendig ein herrscherliches „Gottesgnadentum“ bedingt, dessen trostlose bis fürchterliche gesellschaftliche Konsequenzen die von Schmidt so gelobte Aufklärung erfreulicherweise beseitigt hat. (Ganz abgesehen davon, dass die Trennung von Religion und Politik tatsächlich bei weitem nicht so alt ist wie der antike Ursprung der Kirche; hier sind leider auch die „Fakten“ falsch.)

Fazit: Helmut Schmidt war als gebildeter sozialistischer Humanist vollkommen „unmystisch“ oder, wie man auch sagen könnte, total „mystisch unmusikalisch“.

Das mindert nicht die Feststellung: Er war ein großer Geist und ein noch größerer Charakter, der seinen Frieden finden möge.

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