Der aktuelle Assmann-(Mbembe-)Streit trägt für mich den deutlichen Zug eines Indizes, dass auch bislang als seriös bekannte Gesellschaftswissenschaftler nun zunehmend der allgemeinen Tendenz der gegenwärtigen soziokulturellen Dynamiken erliegen, alle (ehedem) sachlichen Urteilsstandpunkte in emotional und ideologisch hoch aufgeladene persönliche Identifikatoren umzuformen.
Warum denn sollen Nichtjuden überhaupt keine Meinung zu jüdischen Belangen öffentlich äußern dürfen? Warum denn soll Kritik am Staat Israel, die strukturell der Kritik an der Politik anderer Staaten vergleichbar ist, grundsätzlich nicht von Antisemitismus unterschieden werden dürfen? Diese implizit und manchmal sogar explizit geäußerten Forderungen sind unbefangen besehen absurd, und das Irritierende daran, dass sie von manchen akademisch Geschulten heute überhaupt aufgestellt und vertreten werden, lässt meines Erachtens nur eine Erklärung zu: Höchstpersönliche gedankliche Identitätssuche überlagert inzwischen in krassem Maße ubiquitär alles andere – gelegentlich sogar die berufsakademische Selbstverpflichtung auf wissenschaftliches Objektivitätsbemühen und die nüchterne Vernunft derer, die in dieser Vernunft formell qualifiziert sind.
Was man relativieren muss, taugt nicht mehr als Panier. Zuordnungen, die man differenzieren muss, erlauben keine befriedigenden Feindbilder mehr. Auch das Milieu der berufsmäßigen Intellektuellen ist inzwischen in erschreckendem Ausmaß von diesem polemischen Wahn ergriffen. Das ist zwar kein noch-nie-dagewesenes Phänomen – aber immer, wenn es geschichtlich auftrat, war es ein Vorbote schwerster globaler Mehr-Ebenen-Krisen.
Ich möchte nicht einzelne Formulierungen im momentanen Gelehrtenstreit um die Äußerungen von (zentral) Aleida Assmann bekritteln – bei denen es manchmal offenkundig von nichts anderem mehr als vom individuellen Wohl- oder Übelwollen abhängt, ob man darin „Antisemitismus“ findet oder nicht -, sondern ich möchte das große Ganze des Problems im Blick behalten, das sich mit und hinter dieser Debatte verrät.
Ein traditionelles und, was besonders bemerkenswert ist, auch nach dem Holocaust nicht ersticktes Charakteristikum der jüdischen Geisteswelt, das mich schon immer sehr angesprochen hat, wird skizziert durch das einigermaßen bekannte Bonmot, es sei schon ein Staunen wert, dass das Judentum ein so konkret greifbares kulturelles Phänomen sei, obwohl es doch „schwer sei, zwei Juden zu finden, die über irgendeinen Gegenstand derselben Meinung sind“. In nichts drückt sich für mich vortrefflicher eine echte souveräne Identität aus. Die gesamte geistige Hefe der derzeitigen erhitzten Debatte um Frau Assmann et al. ist von dieser Qualität leider Welten entfernt.
Innerhalb wie außerhalb der jüdischen Welt gleichermaßen scheint es derzeit eine beträchtliche Anzahl öffentlich-medialer Debattenteilnehmer zu geben, deren Haltungen und kommunikative Verhaltensweisen des Reflexionsimpulses, den ich hiermit zu geben mir erlaube, dringend bedürfen.
Freilich ist für mich klar: Wer noch nie auch nur probativ zu dem innerlichen Punkt vorgedrungen ist, seine wahre Identität in einer ganz anderen Seins-Dimension zu suchen als in der jeglicher Gedanken und Meinungen, welchen Inhalts auch immer, wird kaum in der Lage sein, diesen meinen Reflexionsimpuls ergiebig zu rezipieren. Damit kommt wiederum die Spiritualität ins Spiel – die natürlicherweise kein Gegenstand des wissenschaftlichen Bewusstseinshorizonts als solchen ist.
Sondern die bestenfalls Teil des persönlichen Horizonts einzelner Wissenschaftler werden kann. Dass letzterer Fall an Häufigkeit kontinuierlich zunimmt, bleibt zu hoffen.