Wenn man einem Fünfjährigen das Versprechen abnimmt, etwas Unerwünschtes nicht mehr zu tun, mag man für einen ruhigen pädagogischen Moment vielleicht nicht ganz zu Unrecht glauben, auf die Vernunftfähigkeiten des Kindes bereits bis zu einem gewissen Grad bauen zu können; aber sobald er das nächste Mal mit einer Bande Gleichalteriger in „Tobsucht“ gerät, kann sein Versprechen sehr leicht wieder völlig vergessen sein, wie der Junge selbst hinterher womöglich ganz treuherzig bekennt: Der soziale und stimmungsmagische Einfluss mancher Situationen ist einfach zu stark, als dass das moralische Gedächtnis ihm Widerstand leisten könnte. Alle Eltern kennen dieses Phänomen. Es hat natürlich mit der Unreife des Kindes zu tun, nicht mit schlechtem Charakter.
Wenn sich (und mich) dieser Tage viele fragen, ob denn alle, die derzeit in die abstrusesten Verschwörungstheorien verfallen oder sich überraschend und völlig unerwartet in ihren Äußerungen auf diffuse Weise als „politisch rechts“ entpuppen, „blöd“ sind, dann fällt mir als Antwort nur der Verweis auf mein Beispiel mit dem Fünfjährigen ein; mit anderen Worten, ich glaube, die Sache hat vielmehr etwas mit einer Dimension der Persönlichkeitsentwicklung und -festigung zu tun, die weit über die Dimension unseres primären landläufigen Verständnisses von „Intelligenz“ – „blöd oder schlau?“ – hinausreicht.
Ich sehe Verschwörungstheorien und politische ausgesprochen „rechte“ Positionen (mit einer definitorischen Grenze dicht jenseits der CSU und knapp diesseits der AfD – Kusshändchen, Markus S.!) grundsätzlich als Ausdruck einer „Persönlichkeitsunsicherheit“ an. Dieser Eindruck verstärkt sich gerade in bisher nie dagewesener Klarheit durch die derzeit zunehmende Offensichtlichkeit der engen natürlichen Verbindung zwischen „verschwörungstheoretisch“ und „rechts“.
„Schuld“ an dem, was in den betreffenden Köpfen und Seelen vor sich geht, ist nur in einer Minderzahl der Fälle ein Mangel an genetisch veranlagter Intelligenz; auch nicht übermäßig häufig ein biographisches Defizit beim früherzieherischen oder schulischen Erlernprozess der grundsätzlichen methodisch richtigen Gebrauchsweise der Vernunft; sondern in den weitaus meisten Fällen meines Erachtens vielmehr etwas auf ganz andere Weise zu Beschreibendes, nämlich eher so etwas wie eine Schwäche in der Verankerungstiefe des tatsächlichen situativen „Einsatzes“ der Vernunft, der nicht stabil genug in der Persönlichkeit befestigt ist. Siehe Fünfjähriger: „Es beißt einfach aus“ mit der Vernunft, in bestimmten Situationen. Bei einem Erwachsenen fragt sich da natürlich: Wie kann das in diesem Alter immer noch passieren?
Nun, es ist keine Frage des Alters, sondern nach meinem Dafürhalten wesentlich eine Sache von „Traumata“, oder, weniger klinisch gesprochen, einfach von „Schocks“.
An dieser Stelle möchte ich vorausschicken, dass es mir bei meinem hier ja ganz offensichtlich vollzogenen „Psychologisieren“ der betreffenden weltanschaulichen Positionen nicht darum geht, diese zu „pathologisieren“. Das ist ein feiner, aber wichtiger Unterschied. Dazu ein sehr kurzer, aber sehr grundsätzlicher Ausflug in die Philosophie: Diese vermag nicht überzeugend zu entscheiden, ob es einen „freien Willen“ im Menschen gibt oder nicht – aber eine lebenspraktische Feststellung lässt sich zu diesem Thema dennoch zweifelsfrei treffen, nämlich dass wir zwangsläufig so leben müssen, „als ob“ es einen freien Willen gäbe, weil die gegenteilige Annahme schlicht keine realistische Basis für eine funktionierende menschliche Gesellschaft bildet. „Verschwörungstheoretiker“ und „Rechte“ müssen also ungeachtet der massiven psychologischen Probleme, die ihren Äußerungen sehr wahrscheinlich zugrundeliegen, für ihre Weltanschauungen trotzdem klar in die Verantwortung genommen werden. Wir sind alle nur Menschen, und anders geht menschliches Miteinander eben nicht. (Genau darüber sollten wir übrigens auch nochmal gründlich reden, solange sich bei uns Strafrichter nahezu regulär von psychologischen Gutachtern „kastrieren“ lassen – oder war das jetzt etwa eine „rechte“ Äußerung? Ich behaupte nein; sondern das Recht auf ein Gerichtsurteil, das uns nicht pathologisiert, sondern uns für „sühne-satisfaktionsfähig“ erklärt, ist ein wichtiger Teil unserer Menschenwürde. Aber das ist ein eigenes umfangreicheres Thema, das wir hier für den Moment beiseite lassen wollen.)
Trotzdem: Wir sollten nicht verkennen, meine ich, dass unsere derzeit aufblühenden „Verschwörungstheoretiker“ und „Neu-Rechten“ (die man passender- und ironischerweise fast als die nächste historische Welle von „Märzgefallenen“ bezeichnen könnte) maßgeblich Opfer eines „Traumas“ oder jedenfalls eines „Schocks“ sind, die eine Persönlichkeits-Instabilität in dieser kruden Form offenbaren. Anders gesagt: Warum war ein Heidegger Nazi? An seiner „Intelligenz“ lag es ja sicher nicht.
Interessant ist nun: Bei uns bestand dieses „Trauma“, dieser „Schock“ ja bisher in nicht mehr als höchstens acht Wochen Ausnahmezustand, in denen den weitaus Meisten von uns zudem ja effektiv nicht viel wirklich Schlimmes zugestoßen ist. Im Grunde nur relativ wenige von uns haben beispielsweise bisher durch die Seuche enge Angehörige in einer jähen Weise, auf die sie nicht vorbereitet waren, „mitten aus dem Leben heraus“ verloren. Die aktuellen enormen Zulaufzahlen von Verschwörungstheorien lassen sich mit solchen „handfesten“ Schicksalserfahrungen jedenfalls eindeutig nicht erklären. Die Gründe dafür müssen viel stärker im Inneren, in reinen Binnen-Zusammenhängen der Psyche der Betreffenden liegen. Im Falle eines solchen Massenphänomens muss man angesichts dessen gewiss die Frage stellen, inwieweit ein kultureller Zustand an diesem Phänomen mitbeteiligt ist.
Heideggers Generation hatte den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise ab 1929 hinter sich, als sie scharenweise den Nazis in die Arme lief – und bei uns reichen, mal sehr provokativ formuliert, bereits sechs oder acht Wochen „nationaler Sonderurlaub“, damit „alle durchdrehen“? Ich will die Belastungen der letzten zwei Monate nicht kleinreden; aber der Vergleich ist dennoch frappierend. Was, bitte, hat denn da soeben innerhalb von zwei Monaten bereits ausgereicht, in gewissem Sinne ein Volk als solches zu „schocken“ oder gar zu „traumatisieren“?
Sind wir im Laufe der letzten 65 Jahre „luxuskrank“ geworden? Leiden wir inzwischen an „Affluenza“ mehr, als wir je wieder unter irgendeiner Influenza leiden werden? Besteht diese Krankheit darin, dass wir kaum noch Resilienz-Ressourcen gegen echte (nicht nur boulevard-philosophisch herbeigeplapperte) Krisen haben? Besteht sie gleichsam in einer „moralisch-kulturellen Immunschwäche“ aufgrund eines jüngsthistorischen Mangels an „Zwischenfalls-Erfahrung“? Diese Fragen lassen sich im Mai 2020 nicht von der Hand weisen.
Übrigens: Eine Persönlichkeitsentwicklung, die den tatsächlichen Einsatz der individuell verfügbaren Vernunft stabil in der jeweiligen Persönlichkeit verankert und gewährleistet, sehe ich als notwendig in Spiritualität gründend an. Für mich ist, „natürlich wieder einmal“, das, was ich „echte Spiritualität“ nenne, der Schlüssel sowohl zur Erklärung wie auch zur Lösung des Problems.