Ich habe das Thema neulich schon touchiert: Auch unser Bild von der Geschichte könnte sich infolge der Coronavirus-Krise verändern – und zwar schlicht indem sich der Aufmerksamkeitsfokus unseres historischen Interesses verändert. Bisher waren unsere dominierenden geschichtlichen Fragestellungen sehr stark von der Erläuterung politischer Hergänge geprägt. Damit gewinnt nahezu automatisch die jeweils jüngere Geschichte Übergewicht gegenüber der jeweils älteren: Politisch ist immer das erst kürzlicher Vergangene einflussreicher als das schon länger Vergangene.
In dem Geschichtsunterricht, den ich am Gymnasium „genoss“, habe ich das in den frühen Neunzigerjahren sehr deutlich gespürt: Damals trumpfte das Fach Geschichte immer noch mit imponierendem Wissensballast auf – aber die „Geschichte“ begann selbst am vollhumanistischen Münchner Wittelsbacher-Gymnasium im Grunde erst mit der Französischen Revolution. Unsere Geschichtslehrer waren damals fast alles angehende Alt-Achtundsechziger mit der typischen Fächerkombination „Deutsch-Geschichte-Sozialkunde“, die ihnen ebenso als Nonkonformisten-Uniform zu Gesicht stand wie ihre obligatorische Blue Jeans, mit der sie sich von den braunen Anzügen und immer noch häufig anzutreffenden Krawatten der Altphilologen absetzten – und offensichtlich waren es die ganz ihren Krawatten entsprechend reichlich anwesenden Altphilologen, die von den „D-G-Sk“-lern nonchalant als für alles vor dem Sturm auf die Bastille Passierte für fachlich zuständig erachtet wurden; ein unausgesprochenes „Divide-et-impera“, bei dem de facto weite und auch wirklich wesentliche Teile der richtig, das heißt universal verstandenen Geschichte notorisch unter den Lehrertisch fielen.
Als Sohn eines passionierten Mediävisten trieben mich diese didaktischen Verhältnisse zur Verzweiflung und zum inneren Widerstand – entsprechend gemäßigt fielen meine schulischen Geschichtsnoten einzig und allein aus diesem Grund aus. Nichts gegen Hitler und den Zweiten Weltkrieg (als Thema geschichtlicher Studien); aber selbst die erstrebenswerte Verhinderung einer Wiederkehr von Ähnlichem wird nach meinem Dafürhalten tatsächlich nicht so sehr vom Auswendiglernen (sozusagen) jeder einzelnen Sondermeldung des Volksempfängers zwischen 1933 und 1945 unterstützt als vielmehr von einem fundierten Gesamt-Geschichtsbild.
Diesbezüglich wittere ich jetzt Morgenrot. Corona macht’s möglich (wie Corona derzeit überhaupt alles möglich zu machen scheint). Meine Erwartung an Corona – jedenfalls die, die ich hier gerade zu formulieren im Begriff bin – halte ich allerdings für vergleichsweise bescheiden und daher für realistisch: Corona könnte dazu führen oder jedenfalls dazu beitragen, dass wir uns wieder mehr für Geschichte in ihrem wahren und wahrhaft bildenden Ganzen interessieren. Denn die Geschichte, auf die die Corona-Erfahrung reflektiert, ist ausnahmsweise mal keine politische – und somit keine, die unseren Blick reflexartig bloß auf die jüngere und jüngste Geschichte einengt.
Die Pandemie verweist unsere Weltverstehensbegierde auf frühere Pandemie-Ereignisse und deren eigentümliche gesellschaftlich-kulturelle Kontexte und Syndrome – und die sind nicht einfach umso relevanter, je jünger sie sind. Damit kommt plötzlich der exorbitante „Schwarze Tod“, der 1347 ausbrach, neu in den Blick; aber auch die Pestwelle, die genau am echten Beginn der „Neuzeit“ 1665/66 London dezimierte und 1678/79 in Wien wütete; die fünf Wellen des durch die heutige Medizin bislang nicht näher identifizierten „Sudor Anglicus“, des „Englischen Schweißes“ von 1485 bis 1551 mit seiner nordeuropäischen Ausbreitung in der Welle von 1528/29, ein Begleitphänomen der Renaissance und Reformation; die „Antoninische Pest“ (das Debut der Pocken?) unter Mark Aurel, zeitgleich mit den ersten Vorboten der Völkerwanderung, und daher von zutiefst metamorphotischer Wirkung auf das Römische Reich (165-180); und nicht zuletzt die Justinianische Pest, wahrscheinlich „die“ schreckliche spätantike Premiere einer „globalen“ Pandemie, mit ihren spektakulären 15 bis 17 Wellen in Abständen von 15 bis 25 Jahren zwischen 541 und 770 (deren Erreger übrigens 2013 ausgerechnet anhand eines Gräberfeldes in Aschheim bei München, fünf Minuten von meinem Wohnort entfernt, nachgewiesen wurde). Jedes dieser Mega-Ereignisse fiel in eine auch aus anderen Gründen bereits spektakulär bewegte Epoche, und zeitigte seinerseits wiederum schwerwiegende historische Folgen.
Ein ungleich (wieder-)bereichertes Panoptikum unterschiedlichster, aber „allemal menschlicher“ historischer Welten lockt also, wenn die Fragen nach solchen Zusammenhängen jetzt womöglich mit einem Mal anfangen, unser in den letzten Jahrzehnten im Grunde arg reduziert gewesenes „Breiten“-Verständnis von „Geschichte“ stärker zu bestimmen und zu prägen.