Nach wie vor wird in konservativen, rechten und liberalen journalistischen Kolumnen immer wieder das mittlerweile genugsam bekannte Lied von der „Staats-Infamie“ angestimmt, „Leben zu schützen, um Freiheitsrechte zu suspendieren“. Ich möchte hier kurz demonstrieren, wie ich auf solche Positionen antworte.
Vorweg: Für einen Theologen stellt dieses Thema nur eine andere Formulierung des von Michel Foucault geprägten kritischen Begriffs der gewaltsam-fürsorglichen „Pastoralmacht“ dar, den in der katholischen Theologie insbesondere Hans-Joachim Sander intensiv rezipiert hat. Eine Anwendung dieses Begriffs auf die Kirche hat freilich eine andere Bewandtnis als im staatstheoretischen Kontext.
Zunächst einmal halte ich es für völlig falsch, sich darüber zu erbosen, die vorgetragene Position ignoriere oder vernachlässige die Opfer der Pandemie – Anwürfe dieser Art springen meines Erachtens grundsätzlich viel zu kurz und ich empfehle dringend, sie generell zu unterlassen. Ganz andere Argumente sind zu einer Hinterfragung dessen, was der betreffende Thesengeber vertritt, aus meiner Sicht viel wichtiger.
Diesen, den „Konservativen, Rechten oder Liberalen“, mit dem ich hier exemplarisch-fiktiv disputiere, möchte ich im folgenden übrigens der Einfachheit halber mit „KoReLi“ abkürzen.
KoReLi wird wahrscheinlich sagen, „die Linke“ habe immer auf den Staat gesetzt. Meine Antwort: Stimmt – wohingegen das Christentum in seiner Substanz (freilich nicht unbedingt die Kirche in ihrer Geschichtlichkeit) grundlegend staatsskeptisch ist. Soviel gemeinsame Basis kann ich KoReLi locker zugestehen.
KoReLi wird vermutlich eine angebliche traditionell übermäßige Staatsgläubigkeit der Deutschen kritisieren. Dazu nur so viel: Unser Bundestag setzt sich in seinen politisch relevanten Kräften aus fünf Parteien zusammen, von denen zwei die klassische sozialistische Staatspriorität repräsentieren, nämlich die SPD und die Linke, während drei Parteien auf höchst unterschiedliche Weise den auch der katholischen Soziallehre grundlegend entsprechenden „Vorrang der Gesellschaft vor dem Staat“ vertreten, nämlich die Union, die Grünen und die F.D.P. Angesichts dessen meine ich, dass KoReLi den Beweis für seine These über den staatshörigen deutschen Nationalcharakter erst noch zu erbringen hat.
Der Soziologe Armin Nassehi hat erst jüngst brilliant artikuliert, dass wir, das föderalistische Deutschland, offenbar kategorisch nicht imstande sind, in einer neuartigen Lage wie der gegenwärtigen Pandemie „wie aus einem Guss“ zielführend zu handeln, es sei denn, wir wollten uns einem hierzulande bislang unüblichen Autoritarismus unterwerfen. Nassehi hat es dabei nicht für nötig befunden, so zu tun, als stünde solcher Autoritarismus unmittelbar drohend vor der Tür.
Die Wahrheit liegt in jener Mitte, die sich für Polemiken nicht eignet. Anzunehmen und zu insinuieren, dass wir in dieser Pandemie „ohne Staat“ im Vorteil wären, ist jedenfalls absurd. Und ebenso absurd ist es, so zu tun, als wäre der Staat nicht erkennbar nützlich, weil er nicht perfekt ist.
KoReLi wird behaupten, unsere Bundesregierung habe beim Pandemie-Krisenmanagement desaströs versagt. Meine Entgegnung: Auch die Regierung verfügt in der Lage, die seit Anfang 2020 entstanden ist, über kein „philosophisches“ Erkenntnis-Voraus. Dass in einer Demokratie wie der unseren ein Philosophiestudium nicht zur üblichen Qualifikation für politische Ämter und Mandate gehört und dass durch diesen Umstand insbesondere in ganz neuartigen und herausfordernden Situationen optimale Entscheidungen und Maßnahmen nicht erleichtert und schon gar nicht beschleunigt werden, ist nicht „den Politikern“ anzulasten, sondern hat zutiefst strukturelle gesellschaftliche Ursachen, für die wir alle gemeinsam verantwortlich sind. Das Genörgel über angebliche skandalöse Polit-Ineffizienz, weil zwischen der Erfindung einer Impfung und ihrer allgemeinen Verfügbarkeit logistisch bedingt mehr als zwei Monate vergehen, ist nicht deshalb schon objektiv zustimmungswürdig, nur weil sich ein mehr oder weniger großer Teil der Bevölkerung in einer derartigen launischen Stimmung ergeht, auf die ich eigentlich nur spöttisch erwidern möchte: „Was beklagt ihr euch denn über zu viel Staatsautorität – ihr seid doch schon unbeherrscht!“
KoReLi wird wahrscheinlich erklären, es gebe Krisen, gegen die man sich nicht wappnen, sondern die man nur stoisch ertragen kann; aber zu dieser Art von Krisen gehöre eine Pandemie nicht. – Ach nein? Richtig ist vielmehr: In dieser Frage lässt sich keine richtige Antwort beweisen. Deshalb müssen beide Antwort-Richtungen, die „aktivistische“ und die „fatalistische“, parallel „erprobt“ werden in einem komplexen gesellschaftlichen Prozess, den weder die Bundesregierung „verwalten“ noch KoReLi vorhersagen kann.
KoReLi wird möglicherweise wie folgt argumentieren: „In der Finanzkrise, die 2007 begann, haben plötzlich klassische Vertreter der globalen Finanzwirtschaft mit den Einsichten linker Theoretiker zu liebäugeln begonnen – und jetzt, 2021, ist es eben an der Zeit, dass umgekehrt die Linken mal gewisse Einsichten der Liberalen ernst zu nehmen beginnen.“ Meine Entgegnung: Aber auf die Idee, dass diese beiden Beispiele, die du selber in einem Atemzug nennst, als Polarität „zusammenzudenken“ sein könnten, kommst du nicht? Du schaust sozusagen erst mit dem einen Auge, dann mit dem anderen – aber am Ende doch nicht „stereo“. Das ist nicht gerade der Gipfel der Schlüssigkeit. Eine zutreffende, ausgewogene Beleuchtung der Rolle des Staates ergibt sich vielmehr gerade daraus, dass 2007 nach der einen Richtung hin sich Hinterfragungswürdiges auftat, während ein entsprechendes Hinterfragen nun, seit 2020, in einer völlig anderen, fast entgegengesetzten Richtung erforderlich wird. So betrachtet offenbart KoReLis Denken mangelnde Dynamik.
Völlig richtig ist meines Erachtens übrigens die Erwartung, dass es infolge der Pandemie-Erfahrung zu einer tiefgreifenden Veränderung im Verhältnis zwischen dem Staat und seinen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland kommen wird – aber KoReLi stellt im Hinblick auf diese zu erwartende Entwicklung wahrscheinlich eine unbegründet enge, beinahe „apokalyptische“ These auf, deren Plausibilität schwer nachvollziehbar ist. Damit schürt er Ängste in einer Weise, die in der gegenwärtigen Situation alles andere als hilfreich ist – und die leider auch allzu sehr an das Geraune anderer Ängste-Schürer erinnert, die gegenwärtig auf beiden Seiten des Atlantiks ihr Unwesen treiben und die nicht ganz zu Unrecht mal verniedlichend als „Schwurbler“, mal dämonisierend als „Demagogen“ etikettiert werden. Mich in solch schlechte Gesellschaft zu begeben, davor würde ich mich an KoReLis Stelle tunlichst hüten.