Judith Butler gilt seit vielen Jahren als die weltweit führende Protagonistin auf dem Gebiet der Philosophie der Geschlechter-Identitäten. Seit den letzten Jahren beschreibt Judith Butler ihre eigene Identität in geschlechtlicher Hinsicht als „nicht-binär“ (obwohl sie, wie es in den Medien heißt, in Bezug auf ihre eigene Person feminine Pronomina sprachpraktisch „anscheinend“ weiterhin zulässt.)
„Nicht-Binarität“ scheint mir bei diesem Thema das entscheidende Stichwort zu sein. Kern meiner Kritik an Butlers Thesen ist ihre Akzeptanzverweigerung gegenüber der essenziellen Binarität menschlicher Existenz. Teil einer in binären Strukturen gegliederten Wirklichkeit zu sein bedeutet, die eigene kategorische Unvollständigkeit anzuerkennen. Für einen spirituellen Menschen ist diese Anerkenntnis essenziell. Nun steht Judith Butler der „Kritischen Theorie“ und der „Frankfurter Schule“ nahe, die nicht dafür bekannt ist, eine spirituelle Ausrichtung zu haben.
Für alle echt spirituellen Bewusstseinsansätze ist die Erkenntnis der eigenen Unvollständigkeit, insbesondere als Unvollständigkeit der subjektiven Perspektive, maßgeblicher Ausgangspunkt. Mit einem solchen Ansatz ist den geschlechterspezifischen Bedürfnissen und Anliegen besser Rechnung getragen als mit deren Leugnung und Nivellierung. Ich als Mann trage in mir nicht den kumulierten, Jahrtausende alten „generischen“ Schmerz von Frauen über unerhörte Ausmaße an Benachteiligung, Ausbeutung und Misshandlung, die ohne jedes Wenn und Aber aufhören muss. Effektiv irdisch heilvoll ist jedoch einzig das klare Wissen um die eigene perspektivische Begrenztheit und Beschränktheit, in diesem Fall als Mann. Allein dieses Wissen ist es, das mir den Perspektivenwechsel ermöglicht, der aller Empathie zu Grunde liegt. Das Streben nach Aufhebung der Binarität hingegen führt letztlich immer in einen Terror absoluter moralischer Ansprüche, denen die conditio humana kategorisch nicht gewachsen ist und nicht gerecht werden kann. Diese letzte Konsequenz als solche sei Judith Butler zwar nicht unterstellt – wohl aber eine gewisse Unreflektiertheit über diese Konsequenz.
Die im Grunde selbe strukturelle Problematik zeigt sich auch bei einem anderen maßgeblichen Motivstrang ihres Denkens, in dem ihre „innerjüdische“ Kritik an Israel immer wieder in der paradoxen gefährlichen Nähe antisemitischer Äußerungen landet: Abermals ist hier meines Erachtens das Fehlen der Möglichkeit echten Perspektivenwechsels die Ursache, weil es konzeptgemäß „de facto“ sozusagen immer nur eine einzige, „neutralisierte“ Perspektive geben darf – auch wenn „de iure“ natürlich gerade der Pluralismus-Anspruch erhoben wird. Echte Pluralität ist immer nur unter wesentlicher ehrlicher Einbeziehung von vielfach schmerzhaft antithetischen Weltgegebenheiten möglich. Für Männer bedeutet das beispielsweise, den Vorverurteilungen und pauschalen Verdächtigungen nicht entrinnen zu können, die sie dem hemmungslos sexistischen Gebaren von neunundneunzig Prozent ihrer Vorfahren über Jahrtausende hinweg zu „verdanken“ haben.
Wer den Kopf in den Sand steckt, weil er meint, auf diese Weise das sozialphilosophische Feuer am Dach löschen zu können, hat schnell bloß hinderlichen Sand im geistigen Getriebe.
Übrigens wäre es mir viel lieber, wenn ich mich als Frau gegen Judith Butler äußern könnte – in etwa analog dazu, wie sie als Jüdin es sich vergleichsweise „bequem“ leisten kann, gegen die Politik Israels scharf auszuteilen. Geht leider nicht – zumindest aus meiner Sicht.