Zum Rücktrittsgesuch von Kardinal Marx

Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, hat mit Datum vom 21. Mai 2021 einen Brief an Papst Franziskus geschrieben, worin er diesen bittet, seinen Amtsverzicht anzunehmen. Es war der Papst, der diesen persönlichen und vertraulichen Brief später zur Veröffentlichung freigegeben hat, die nun erfolgt ist (ohne das Schreiben bislang zu beantworten). Der Inhalt des Briefes, den ich hier kommentieren möchte, lautet wie folgt:

„Ohne Zweifel geht die Kirche in Deutschland durch krisenhafte Zeiten. Natürlich gibt es dafür – auch über Deutschland hinaus weltweit – viele Gründe, die ich hier nicht im Einzelnen ausführen muss. Aber die Krise ist auch verursacht durch unser eigenes Versagen, durch unsere Schuld. Das wird mir immer klarer im Blick auf die katholische Kirche insgesamt, nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen Jahrzehnten. Wir sind – so mein Eindruck – an einem gewissen ‚toten Punkt‘, der aber auch, das ist meine österliche Hoffnung, zu einem ‚Wendepunkt‘ werden kann. Der ‚österliche Glaube‘ gilt doch auch für uns Bischöfe in unserer Hirtensorge: Wer sein Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer es verliert, wird es gewinnen! Seit dem letzten Jahr denke ich intensiver darüber nach, was das auch für mich persönlich bedeutet und bin – durch die Osterzeit ermutigt – zu dem Entschluss gekommen, Sie zu bitten, meinen Verzicht auf das Amt des Erzbischofs von München und Freising anzunehmen. Im Kern geht es für mich darum, Mitverantwortung zu tragen für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten.“

Respekt. Großer Respekt. In meinem Umfeld gibt es viele, die Kardinal Marx in erster Linie für einen gewieften Kommunikationsstrategen halten. Ich habe mich immer gefragt, ob es nicht ein verheerender Fehlschluss ist, aus der Tatsache, dass jemand großes Geschick im Umgang mit den Medien beweist, bewusst oder unbewusst grundsätzlich zu folgern, die Äußerungen der betreffenden Person seien nicht aufrichtig. Diese zu wenig differenzierenden pauschalen Kritiker werden jetzt vermutlich wähnen, es handele sich bei Marx’ Brief um einen taktischen Schachzug: Er wisse wohl schon, dass ihm die Veröffentlichung eines Gutachtens zum Missbrauch in der Kirche, die für das Erzbistum München und Freising noch in diesem Sommer erfolgen soll, neue ganz persönliche Schwierigkeiten bescheren werde; da er betont, dass er nicht amtsmüde ist, sei zu erwarten, dass Papst Franziskus sein Rücktrittsgesuch ablehnen werde; somit würde er dann klugerweise bereits mit einer gewichtigen päpstlichen Bestätigung in die Herausforderungen dieses Sommers gehen können. Solchen maliziösen Spekulationen kann ich mich nach der Lektüre des Briefes und dem Anhören der Pressekonferenz anlässlich seiner Veröffentlichung nicht anschließen.

Unabhängig davon verdient der Umstand unbefangen meditiert zu werden, wie spezifisch hier „Mitverantwortung für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche“ als Grund angegeben wird. Dies ergibt nämlich nur Sinn, wenn der Missbrauch „strukturell“ ist. Dies ist er in der Tat in mindestens zwei Hinsichten – in der einen davon zweifellos und in der anderen sehr wahrscheinlich: Zweifellos strukturell ist er hinsichtlich der systematischen Vertuschung von Taten mittels Deckung von Tätern seitens sehr vieler Bischöfe zum Zweck der Wahrung des Ansehens der Kirche; sehr wahrscheinlich strukturell ist er hinsichtlich der besonderen und statistisch erhöhten Attraktivität der katholischen Priesterrolle als einer auf mystifikationsanfällige Weise mit vorgeschriebener zölibatärer Lebensform verbundenen Berufsrolle für Personen mit gestörter psychosexueller Entwicklung. Wenn das Problem tief strukturell ist, müsste ein Amtsträger, der mit dem oben zitierten, von Kardinal Marx formulierten Satz argumentiert, aber streng genommen und salopp gesagt deshalb zurücktreten, „weil die katholische Kirche so ist, wie sie ist“, mit anderen Worten, das Problem berührt dann Grundlagen der Kirche, die Marx gar nicht verantworten kann; in diesem Fall könnte er konsequenterweise nicht bloß als Diözesanbischof zurücktreten, sondern er müsste dann auch sein Priesteramt niederlegen, sich laisieren lassen und sogar aus der römisch-katholischen Kirche austreten. Eine „Katastrophe“ kann niemand „verantworten“, dieser Sprachgebrauch ergibt nicht wirklich Sinn; verantwortlich sein kann ein Mensch auch in einer sehr hohen Position immer nur für unter seiner Aufsicht geschehene Fehler, die im günstigen Fall „nur“ zu einem „Skandal“ führen und im ungünstigen Fall zu einem „Super-GAU“.

„Die Untersuchungen und Gutachten der letzten zehn Jahre zeigen für mich durchgängig, dass es viel persönliches Versagen und administrative Fehler gab, aber eben auch institutionelles oder ‚systemisches‘ Versagen. Die Diskussionen der letzten Zeit haben gezeigt, dass manche in der Kirche gerade dieses Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben wollen und deshalb jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüberstehen. Ich sehe das dezidiert anders. Beides muss im Blick bleiben: persönlich zu verantwortende Fehler und das institutionelle Versagen, das zu Veränderungen und zur Reform der Kirche herausfordert.“

Abgesehen davon, dass mir nicht klar ist, wie hier der Ausdruck „administrative Fehler“ definiert sein will (wurden Berichte über sexuellen Missbrauch etwa versehentlich in den falschen Aktenordnern abgeheftet?), stellt dieser Satz gewiss das Deutlichkeits-Maximum dar an Kritisieren einer gewissen Fraktion unter seinen bischöflichen Amtsbrüdern, das von einem echten Diplomaten erwartet werden kann.

„Ein Wendepunkt aus dieser Krise kann aus meiner Sicht nur ein ‚synodaler Weg‘ sein, ein Weg, der wirklich die ‚Unterscheidung der Geister‘ ermöglicht, wie Sie es ja immer wieder betonen und in Ihrem Brief an die Kirche in Deutschland unterstrichen haben.“

Wenn ein „synodaler Weg“ die „Unterscheidung der Geister“ ermöglichen soll, dann klingt das für mich persönlich, mit Verlaub, nach einer Idealisierung von Demokratie seitens einer traditions-institutionellen Binnen-Mentalität, die die hochkomplexen und „gemischten“ Erfahrungen der Gesamtgesellschaft mit Demokratie in den letzten anderthalb Jahrhunderten weitgehend verpasst und nicht zur Kenntnis genommen hat. Außerdem ist diese Assoziation auch tief theologisch inkonsistent: Die „Unterscheidung der Geister“ ist nach Paulus eine Gnadengabe; Gnadengaben werden 1Kor 12,10 zufolge dezidiert Individuen verliehen, nicht Kollektiven.

„Ich bin seit zweiundvierzig Jahren Priester und fast fünfundzwanzig Jahre Bischof, davon zwanzig Jahre Ordinarius eines jeweils großen Bistums. Und ich empfinde schmerzhaft, wie sehr das Ansehen der Bischöfe in der kirchlichen und in der säkularen Wahrnehmung gesunken, ja möglicherweise an einem Tiefpunkt angekommen ist. Um Verantwortung zu übernehmen reicht es aus meiner Sicht deshalb nicht aus, erst und nur dann zu reagieren, wenn einzelnen Verantwortlichen aus den Akten Fehler und Versäumnisse nachgewiesen werden, sondern deutlich zu machen, dass wir als Bischöfe auch für die Institution Kirche als Ganze stehen.“

Strukturell taucht mit der Bemerkung über das ramponierte Image der Bischöfe wieder anflughaft die leidige Fixierung bischöflicher Stellungnahmen auf das öffentliche Ansehen der Kirche auf – wenn auch in einer verglichen mit anderen Bischöfen nur sehr milden, weil persönlich gehaltenen Form -, mithin ansatzweise genau das, was Marx selbst in einem sehr bald darauffolgenden Satz seines Briefes kritisiert. Darin deutet sich ein gewisses Dilemma an. Denn es ist ja letztlich doch erst die Betroffenheit über einen bereits eingetretenen großen Schaden, der Marx zu seinem Rücktritt bewegt – und dieser Schaden ist im Grunde eben doch ein Schaden, der für die Kirche als Institution entstanden ist. Das kann streng logisch betrachtet allerdings auch gar nicht anders sein: Der Schaden, der den Missbrauchs-Opfern entstanden ist, ist kategorisch immer ein individueller Fall, der sich nie angemessen mit anderen Fällen vergleichen lässt. Aus der Opferperspektive existieren also überhaupt nur Einzelfälle; Einzelfälle als solche ergeben aber, egal wie viele es sind, per Definition keine aggregierbare Argumentationsgrundlage. Wegen eines einzelnen Missbrauchsfalles wäre Kardinal Marx nicht zurückgetreten – und das hätte auch niemand von ihm erwartet. Eine „Masse“ miteinander vergleichbarer Vorfälle stellt sich also grundsätzlich überhaupt immer erst und nur aus der systemischen Perspektive dar – der es im vorliegenden Zusammenhang wiederum kategorisch um nichts anderes als um die Daseinsberechtigung von Institutionen gehen kann. Das „Leid der Opfer“ gibt es tatsächlich immer nur als das „Leid des Opfers im Singular“ – und es kann als solches den Rücktritt eines Institutionsverantwortlichen streng logisch gesehen gar nicht schlüssig begründen. Andernfalls stünde tatsächlich die amtsinhabende Daseinsberechtigung jeglicher höherer Amtsträger tagtäglich gravierend in Frage, weil unter ihrer Verantwortung ständig überall die verschiedensten Arten von Unregelmäßigkeiten vorkommen, deren Gewichtung sich nicht auf eine schematische, geschweige denn zwingende Weise moralisch einorden lässt. In dieser Erkenntnis offenbart sich ein gewisser grundlegender logischer Circulus vitiosus des kirchlichen Umgangs mit der Missbrauchskrise, an dem Reinhard Marx nicht schuld ist. Aus Institutionssicht kann der Verantwortliche noch so schuld sein – wenn er trotzdem die richtige Person ist und bleibt, um den Schaden einzudämmen und ihn, soweit möglich, zu beheben und zu kompensieren, dann soll er im Amt bleiben und die Leitung der Korrektur, Reparatur und Wiedergutmachung übernehmen. Aus dieser Perspektive betrachtet erkennt man besonders deutlich, dass ein „Rücktritt aus Betroffenheit über die Leiden der Opfer“ logisch im Grunde nicht schlüssig ist. Wirklich logisch kommt überhaupt nur ein Rücktritt aus Verantwortung für das Versagen der Institution in Betracht – und es ist ganz folgerichtig, wenn solches Versagen am sich verschlechternden öffentlichen Image der Institution gemessen wird. Ich kann nicht beurteilen, ob Reinhard Marx als Erzbischof von München und Freising durch geeignetere Nachfolger abgelöst werden könnte; ich kann nur darauf hinweisen, dass es paradox ist, wenn diese Frage im vorliegenden Ereigniszusammenhang überhaupt nicht thematisiert wird.

„Es geht auch nicht an, einfach die Missstände weitgehend mit der Vergangenheit und den Amtsträgern der damaligen Zeit zu verbinden und so zu ‚begraben‘.“

Das wäre wohlfeil und pietätlos, denn die Toten können sich nicht wehren, und ihnen etwas in die Schuhe zu schieben, ist eine der leichtesten Übungen unter den gängigen Qualifikationsbeweisen jeglicher Form von Macht. Dieser Satz sollte eigentlich überflüssig sein. Dass er es mit Blick auf das Verhalten mancher Bischofskollegen von Marx nicht ist, liefert noch einmal eine ganz eigene Bestätigung der Krise.

„Ich empfinde jedenfalls meine persönliche Schuld und Mitverantwortung auch durch Schweigen, Versäumnisse und zu starke Konzentration auf das Ansehen der Institution.“

Falls Kardinal Marx mit diesem Satz für eventuelle ihm persönlich unbequeme Ergebnisse der Missbrauchsstudie des Erzbistums München und Freising vorbaut, die bald erscheinen wird, ist ihm dies ohne Problematisierung zuzugestehen und nicht als Zeichen von taktiererischer Unlauterkeit seiner Motive auszulegen.

„Erst nach 2002 und dann verstärkt seit 2010 sind die Betroffenen sexuellen Missbrauchs konsequenter ins Blickfeld gerückt, und dieser Perspektivwechsel ist noch nicht am Ziel. Das Übersehen und Missachten der Opfer ist sicher unsere größte Schuld in der Vergangenheit gewesen. Nach der von der Deutschen Bischofskonferenz beauftragten MHG-Studie habe ich in München im Dom gesagt, dass wir versagt haben. Aber wer ist dieses ‚Wir‘? Dazu gehöre ich doch auch. Und das bedeutet dann, dass ich auch persönliche Konsequenzen daraus ziehen muss. Das wird mir immer klarer. Ich glaube, eine Möglichkeit, diese Bereitschaft zur Verantwortung zum Ausdruck zu bringen, ist mein Amtsverzicht. So kann von mir vielleicht ein persönliches Zeichen gesetzt werden für neue Anfänge, für einen neuen Aufbruch der Kirche, nicht nur in Deutschland. Ich will zeigen, dass nicht das Amt im Vordergrund steht, sondern der Auftrag des Evangeliums. Auch das ist Teil der Hirtensorge. Ich bitte Sie deshalb sehr, diesen Verzicht anzunehmen. Ich bin weiterhin gerne Priester und Bischof dieser Kirche und werde mich weiter pastoral engagieren, wo immer Sie es für sinnvoll und gut erachten. Die nächsten Jahre meines Dienstes würde ich gerne verstärkt der Seelsorge widmen und mich einsetzen für eine geistliche Erneuerung der Kirche, wie Sie es ja auch unermüdlich anmahnen.“

Mit der Frage nach der „geistlichen Erneuerung“ sind wir meines Erachtens beim eigentlichen Angelpunkt (man könnte wortsinngemäß auch sagen Kardinalpunkt) der gesamten Auseinandersetzung um Missbrauch in der katholischen Kirche angekommen. Der Missbrauchsskandal ist in mehrerlei Hinsicht strukturell, er ist eine komplexe Folge der in der römisch-katholischen Kirche herrschenden Strukturen. Die geeignete Behandlung dagegen ist, im medizinischen Bild gesprochen, keine Wundnaht, sondern eine Herztransplantation. Ich glaube Kardinal Marx seinen Willen zur Veränderung. Aber das beantwortet noch nicht die Frage, wie diese Veränderung aussehen muss, um der Kirche tatsächlich eine lebendige Zukunft zu ermöglichen. Dabei ist meines Erachtens zunächst zu fragen, ob es um eine Erneuerung der Kirche oder um eine Erneuerung des Christentums geht. Aus traditioneller römisch-katholischer Sicht erübrigt sich diese Frage, da es aus dieser Sicht kein Christentum außerhalb der Kirche gibt – aber genau diese katholische traditionelle Sicht könnte sich mit der gegenwärtigen Krise erledigt haben beziehungsweise erledigen müssen.

In seiner Pressekonferenz anlässlich der öffentlichen Vorstellung seines Briefes an den Papst sagte Reinhard Marx den eindrücklichen Satz: „Ich glaube fest an eine neue Epoche des Christentums.“ Das ist der Punkt, an dem ich am zweifelsfreiesten einer Meinung mit ihm bin.

Die enge Bezugnahme aller gegenwärtigen kirchlichen Ereignisse auf die Missbrauchskrise aber, die trotz all ihrer unbestreitbaren und durch keinerlei Einwände zu mindernden Schrecklichkeit für mich entschieden eher symptomatisch als in sich selbst theologisch substantiell ist, lässt für mich bisher nicht erkennen, dass die Probleme der Kirche in jener Tiefe ihrer Wurzeln angepackt werden, an der allein sich ernstzunehmende Ansatzpunkte für eine durchschlagend zukunftsfähige echte geistliche Erneuerung des kirchlichen Christentums finden lassen können.

„Die Kirche“ beruht auf einer Tradition, innerhalb deren ein gewisser Bruch zwischen der Postmoderne und aller davorliegenden Kirchengeschichte wohl unvermeidlich geworden ist. Das traditionelle kirchliche Christentum kann heute letztlich nur noch „formal“ fortgeführt werden, aber nicht mehr in der Ungebrochenheit seines vormodernen Selbstverständnisses, das zwischen „formal“ und „tiefstinhaltlich“ noch nicht unterschied. Der herkömmliche Glaube an eine Wirksamkeit der Sakramente, der diese buchstäblich mit der Wirkung von Nahrungsaufnahme oder ärztlichen Eingriffen gleichsetzte, eine überaus konkrete Motivation zu moralischer Lebensführung aus surrealistischer Höllenangst, oder auch ein problemloses durchweg wörtliches Verständnis der Heiligen Schrift sind heute unwiederbringlich anachronistisch geworden. Früher bedeutete Tradition schlicht die Weitergabe von geoffenbarter absoluter Wahrheitseinsicht; heute kann sie schlechterdings nur noch die gleichsam im Sinne Kants „transzendental“ reflektierte Fortführung einer überlieferten religiösen Perspektiven- und Praxisentscheidung bedeuten. Jeder umfangreicher lautende Anspruch der Religion ist der grundlegendst gültigen Sphäre menschlicher Vernunft gegenüber unvertretbar geworden. Hinter diese Errungenschaft der Aufklärung führt kein Weg zurück. Man kann heute nur noch entweder mit dieser Anerkenntnis religiös sein oder unter vollständiger Aufgabe jeglicher Rechtfertigung der Religion gegenüber der elementarsten Vernunft. Damit aber kann „geistliche Erneuerung“ kategorisch keine Rückkehr zu Glaubensformen des 19. Jahrhunderts bedeuten. Für die katholische Auffassung vom Priestertum bedeutet dies, dass dessen traditionelle Interpretation als eine durch die Weihe eintretende „ontologische Wesensbesonderheit“ des Amtsträgers heute unausweichlich als eine unhaltbare Überhöhung erscheinen muss. Die Gregorianischen Reformen vor rund 950 Jahren, das Trienter Konzil vor rund 450 Jahren und das Erste Vatikanum vor rund 150 Jahren, am unmittelbaren Vorabend der Moderne, bezeichnen drei richtungsgleiche Schritte einer langfristigen geschichtlichen Entwicklung der essenziellen Kopplung des Katholizismus an sein Priesterbild. Von dieser Richtung abgehen zu müssen, erlaubt dem Katholizismus der Zukunft einfach kein bruchloses Verhältnis zu seinem eigenen Traditionsbegriff mehr. Mehr noch als irgendein lnhalt der Tradition muss in der katholischen Kirche heute der Traditionsbegriff modifiziert werden. Das meine ich mit dem Bild von Wundnaht und Herztransplantation.

Der Geist des Evangeliums hängt nicht am katholischen Priesterbegriff. Ganz im Gegenteil, „Priester“ kommen im Evangelium überhaupt nur als tendenzieller Negativbegriff vor. Angesichts dessen dürften meine Unsicherheiten hinsichtlich dessen, was Kardinal Marx mit „geistlicher Erneuerung“ meint, verständlich sein.

Das ändert aber nichts daran, dass meine seit Jahren stetig gewachsene besondere (also über das jedem Mitmenschen gebührende und zukommende Maß hinausgehende) Achtung der Person Reinhard Marx und meine Sympathie für ihn sich Anfang Juni 2021 noch einmal verstärkt hat.

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