Der prominente tschechische Theologe Tomáš Halík hat in seinem Statement zur Corona-Krise („Christentum in Zeiten der Krankheit“) erwähnt, wie der spätmittelalterliche Quantensprung der Mystik durch das Abendländische Schisma zwischen den römischen und den avignonesischen Päpsten (1378-1417) katalysiert wurde: Die beiden Päpste belegten die Anhängerschaften des jeweils anderen mit dem Interdikt, dem Verbot gottesdienstlicher Handlungen als Strafe für Verstöße gegen das Kirchenrecht; infolgedessen fanden damals europaweit vielerorts keine Gottesdienste mehr statt – und dies wiederum zog eine beträchtlich dynamisierte Entwicklung der christlichen Mystik als einer verinnerlichteren Form der Gottesbeziehung nach sich.
Halík verwendet diese historische Reminiszenz mit Blick auf die hygienischen Kirchensperrungen des Frühjahrs 2020 als ein Zeichen für die besonderen Chancen der Mystik in Zeiten eines zurückgedrängten Formalismus der Religion. So sehr mich dieser Gedanke spontan anspricht, muss man doch noch einmal genauer hinter Halíks Argument blicken:
Das späte vierzehnte Jahrhundert war die düstere Epoche einer mindestens doppelten europaweiten Katastrophe, von der das Abendländische Schisma nur die eine, reiner kulturelle Hälfte bildete. In der Folge des Jahres 1347 hatte die große Pest, der „Schwarze Tod“, möglicherweise fast die Hälfte der gesamten europäischen Bevölkerung dahingerafft – ein vermutlich auch innerhalb einer spezifischen Weltgeschichte der Pandemien beispielloses Ereignis.
Dem Historiker muss ins Auge stechen, wie Halík als Illustration eines Manifestes, das die Gegenwart der Corona-Krise thematisiert, das vierzehnte Jahrhundert evoziert, ohne dabei dessen am meisten gestaltgebendes Hyper-Ereignis der Pest in den Blick zu fassen, obwohl dieses sich dem Epochen-Vergleich doch mehr als anzubieten scheint. Das wirkt geradezu wie eine Ellipse oder Aposiopese.
Wir können das Wesen der verschiedenen möglichen tieferen Zusammenhänge zwischen der Pest von 1347 und dem dreißig Jahre späteren Abendländischen Schisma nicht zuversichtlich behaupten. Vermutlich ist es kein Zufall, dass die zweite Pest-Generation mit der schon seit 1309 bestehenden avignonesischen Herausforderung des Papsttums weniger diplomatisch subtil und geschickt umging als zuvor, wo man ein entsprechendes Schisma zunächst trotz aller Probleme fast siebzig Jahre lang noch vermieden hatte. Es ist nicht abwegig, die vergleichsweise unbeherrschteren Konfrontationen von 1378 auf einen allgemeinen Kulturwandel zum Gröberen zurückzuführen, der seinerseits wiederum auf vielfältigen Wegen den Folgen der Pest zuzuschreiben ist (z.B.: „durchschnittlich jüngere und weniger selektierte Verantwortungsträger, da sozusagen nur noch eine halb so große Grundgesamtheit als Grundlage für die Personalauswahl vorhanden“ – ich verweise hierzu auf das Buch von David Herlihy „The Black Death and the Transformation of the West“, 1997). Streng wissenschaftlich betrachtet bleiben solche Zusammenhänge jedoch allesamt Spekulation.
Diese Überlegung kann trotzdem für die Gegenwart und ihre Auseinandersetzung mit Halíks Impuls als fruchtbare Denkanregung dienen: Möglicherweise gibt es gar keine direkte, „simple“ Verbindung zwischen einer Pandemieerfahrung und einer Blüte der Mystik – wohl aber eine Verkettung über ein Zwischenglied, nämlich über die komplexen soziokulturellen Folgen einer Pandemie.
Weshalb könnte diese Überlegung für uns wichtig sein? Wer, wie ich und viele andere, hoffnungsvoll erwartet, dass die Menschen „nach Corona unmittelbar (wieder) spiritueller“ werden, riskiert möglicherweise aufgrund Naivität eine unnötige Frustration – oder auch ein wirkungsloses vorschnelles „Verschießen seines intellektuellen Pulvers“: Es kann nämlich sein, dass aufgrund der Corona-Krise zwar sehr wohl eine neue Stunde der Spiritualität (und insbesondere eine neue Stunde der Mystik in der Spiritualität) schlägt – aber vielleicht erst in fünf oder zehn Jahren, wenn die besagten eigentlich soziokulturellen Folgen sich zu entfalten beginnen, die sich bedeutend langsamer fortpflanzen als Viren – sogar noch langsamer als die globalökonomischen Domino-Effekte von Shutdowns und Lockdowns.
Dass es ganze dreißig Jahre werden könnten (wie hypothetisch-symbolisch zwischen 1347 und 1378), das erwarte ich persönlich dann allerdings doch eher nicht.