Wenn wir, wie jedes Jahr, die Krippen herausholen und schauen, ob noch alle Arme und Hufe an allen Figuren dran sind, wird mir immer sehr deutlich, dass die mit dem niedrigsten gesellschaftlichen Status, die Hirten und ihre Tiere, für die Weihnachtsszene genauso unverzichtbar sind wie alle anderen Teilnehmer. Um ganz ehrlich zu sein, könnte ich mir unterm Christbaum am ehesten noch die kluge Elite wegdenken, die mittels Stern-Navi aus der Ferne zu Besuch angereist kommt, jene „Weisen aus dem Morgenland“, die bezeichnenderweise ja auch aus einem anderen Evangelium stammen (aus Matthäus, während der gesamte Rest der traditionellen Szene von Lukas ist – und die bei Matthäus übrigens auch weder Könige noch drei sind, sondern bloß drei Geschenke bringen; aber das ist eigentlich schon wieder ein anderes, eigenes Thema).
Jedenfalls, ohne die Hirten geht bei der Geburt des Heilands gar nichts. Um darüber angemessen zu staunen, um zu ermessen, wie wenig so ein Hirt gesellschaftlich eigentlich wert war, kann man sich beispielsweise klar machen, dass den Hirten ihre Tiere nicht gehörten. Das kann man mit Sicherheit sagen, weil alle Stellen im Alten Testament, die von Hirten handeln, darauf sehr deutlich hinweisen.
„So entstand Streit zwischen den Hirten der Herde Abrams und den Hirten der Herde Lots…“ (Gen 13,7).
Die ganze Beziehung zwischen Jakob und seinem Schwiegervater Laban, beginnend mit der Szene in Genesis 29,1-10, in der eine ausgeklügelte Regelung gegen Missbrauch und Diebstahl von Wasser (der schwere Stein auf der Quelle, den immer nur mehrere Hirten gemeinsam bewegen können), zeigt, dass die Hirten nicht die Eigentümer der Herde sind, um die sie sich kümmern.
Der Pharao sagt zu Josef: „Das Land Ägypten steht dir offen. Im besten Teil des Landes lass deinen Vater und deine Brüder wohnen! Sie sollen sich im Land Goschen niederlassen. Wenn du aber unter ihnen tüchtige Leute kennst, dann setze sie als Aufseher über meine Herden ein!“ (Gen 47,6)
Der Prophet Jeremia donnert: „Wo ist die Herde, die dir anvertraut war, wo sind die Schafe deines Ruhms?“ (Jer 13,20) – „Weh den Hirten, die die Schafe meiner Weide zugrunde richten und zerstreuen – Spruch des HERRN. Darum – so spricht der HERR, der Gott Israels, über die Hirten, die mein Volk weiden: Ihr habt meine Schafe zerstreut und sie versprengt und habt euch nicht um sie gekümmert. Jetzt kümmere ich mich bei euch um die Bosheit eurer Taten – Spruch des HERRN. Ich selbst aber sammle den Rest meiner Schafe aus allen Ländern, wohin ich sie versprengt habe. Ich bringe sie zurück auf ihre Weide und sie werden fruchtbar sein und sich vermehren. Ich werde für sie Hirten erwecken, die sie weiden, und sie werden sich nicht mehr fürchten und ängstigen und nicht mehr verloren gehen – Spruch des HERRN.“ (Jer 23,1-4) – „Klagt, ihr Hirten, und schreit; wälzt euch im Staub, ihr Herren der Herde! Denn die Zeit ist gekommen, dass ihr geschlachtet werdet; ich zerschmettere euch, dass ihr berstet wie ein Prunkgefäß. Es gibt keine Flucht mehr für die Hirten, kein Entrinnen für die Herren der Herde. Horcht, wie die Hirten aufschreien und die Herren der Herde wehklagen, weil der HERR ihre Weide verwüstet.“ (Jer 25,34-36) (Gerade die letzten Verse können einen freilich durchaus in mehrfacher Hinsicht sehr nachdenklich machen: Unsere Bibel ist nicht immer so „nett“ wie in der Krippenszene des Lukas.)
Nicht zuletzt verdient im Neuen Testament der gleichnishafte „verlorene Sohn“ sich seinen Lebensunterhalt auf der Höhe seiner Not als Hirt, was offensichtlich ein Bild für eine prekäre Existenz ist. Lk 15,15 sagt freilich ausdrücklich, dass der junge Mann zu den Schweinen geschickt wird, was vermutlich noch einmal eine Hierarchie innerhalb des Hirtenstandes ausdrückt, da Schweine ihrer Anspruchslosigkeit wegen in der Nähe des Hauses gehalten werden und ihren Hütern daher vergleichsweise weniger Kompetenzen abverlangen. Andererseits betont das „unjüdische“ Motiv der für Juden kultisch unreinen Schweine in dem lukanischen Gleichnis zweifellos in erster Linie das Kolorit der Fremde, in die der verlorene Sohn sich begeben hat, was seine Vergleichbarkeit mit anderen biblischen Hirtengestalten wieder reduziert.
Geringfügig bessergestellt sind in der Hirtenfunktion freilich gegebenenfalls die Söhne des Herdenbesitzers. Aufgrund der kulturgeschichtlich einzigartig starken Rolle des Erstgeburtsrechts im alten Israel ist hierbei jedoch noch einmal ein Unterschied zu erkennen zwischen Erstgeborenen und jüngeren Söhnen. Der jüngste Sohn wird zwar jeweils nur wenig erben und Schwierigkeiten haben, den Status seines Vaters einzuholen; dennoch steht auch er in der gesellschaftlichen Hierarchie immer noch ein kleines Stück über den angestellten Hirten. Dies kommt in der Erzählung von den Söhnen Jakobs, als sie ihren zweitjüngsten (Halb-)Bruder Josef in die Sklaverei verkaufen (Gen 37), ebenso zum Ausdruck wie in der Erzählung von der Königssalbung Davids als des Jüngsten unter seinen Brüdern, der zwecks dieser Salbung direkt von der durch ihn soeben noch beaufsichtigten Schafherde seines Vaters weggeholt wird (1Sam 16,1-13).
Der 23. Psalm mit seinem Leitmotiv „Der Herr ist mein Hirte“ muss vor diesem Hintergrund innerhalb des Gesamthorizonts der biblischen Theologie als untypisch bezeichnet werden. Hier wird die „Übergebühr“ des hirtlichen Handelns rühmend herausgestellt, indem sie als eine Eigenschaft Gottes erscheint – theologisch ist diese Volte unkonventionell und kühn, denn ansonsten ist es in der Bibel nie Gott, der mit einem Hirten verglichen wird, sondern die Könige Israels sind es zumeist – wie beim zitierten Jeremia -, auf die ein solcher Vergleich zielt, während Gott dann jeweils dem die Könige beauftragenden Eigentümer der Herde entspricht.
Der Gesamteindruck, den alle diese Stellen gemeinsam formen, zeigt sehr klar: Als das Alte Testament geschrieben wurde, geschah dies zu einer Zeit, in der es längst gesellschaftlicher Standard in Israel geworden war, dass Herden nicht von ihren Eigentümern geweidet wurden, sondern von Hirten mit dem Status von „Angestellten“. Herdenbesitz machte einen Mann reich. (Von Frauen reden wir hier tatsächlich nicht; Frauen hatten keinen Besitz, sie waren Besitz – grässlich, aber wahr.) Auf dem Feld der Viehzucht begann die „Kapitalisierung“ historisch früher als beim Ackerbau. Und entsprechende gut situierte „Tierunternehmer“ führten nicht mehr selbst ihr Vieh auf die Weide, sondern dafür hatten sie ihre Leute, die in jener hierarchischen Gesellschaft nur geringfügig angesehener waren als Tagelöhner, die die unterste Packung der Statuspyramide bildeten.
Für mich wirft diese biblisch-historische Beobachtung im Zusammenhang mit der Weihnachtsgeschichte folgende Frage auf: Für uns heute ist ein Angestellter zumeist und in erster Linie jemand, der die ihm übertragene, arbeitsvertraglich genau definierte und geregelte Tätigkeit verrichtet und an der Grenze dieser Definition angekommen sich nicht automatisch dafür zuständig fühlt sicherzustellen, dass seine Leistung tatsächlich zum Erreichen eines höheren Gesamtziels beiträgt – für letzteres wird nämlich der Lohnherr, der Arbeitgeber, der Vorgesetzte als zuständig und verantwortlich angesehen. Wenn er mit seinem Unternehmen nicht zu seinem letztendlichen und eigentlichen Erfolgsziel gelangt, muss er die partikuläre Arbeit seiner Mitarbeiter, die bloße „Arbeitnehmer“-Stellung innehaben, eben anders definieren – und sie anders entlohnen.
Nun haben es die biblischen Arbeitnehmer in der Weidewirtschaft aber mit Lebewesen zu tun. „Unternehmensziel nicht erreicht“ bedeutet hier: ein Lebewesen, das leben will, das fühlen, leiden und Angst haben kann, ist tot. Natürlich sind die Nutztiere auch dazu da, geschlachtet zu werden; aber solche Tötung wird gerade in der Bibel keineswegs als eine Bagatelle angesehen: Ursprünglich will die Bibel Schlachtung überhaupt nur im direkten Zusammenhang mit dem Kultopfer an den einen, wahren Gott Israels zulassen. („Später“ muss sie das freilich wieder relativieren, weil diese Regel angesichts nur noch eines einzigen Tempels praktisch nicht mehr organisierbar erscheint – einer meiner theologischen Lehrer formulierte die dahintersteckende Problemfrage anschaulich so: „Für jede Scheibe Schinken auf dem Bagel eigens nach Jerusalem pilgern?“) Dieses ideelle Arrangement verrät jedoch beträchtliche Gewissenhaftigkeit im Umgang mit dem Leben von Tieren. Mindestens zwei explizite Tierschutzregeln im Deuteronomium unterstreichen diese israelitische Grundhaltung (Dtn 22,6-7 und Dtn 25,4).
Der antike Hirt ist bei der Ausübung seines Erwerbs auf sich allein gestellt. Es gibt keine Handys und keine Wettervorhersage – dafür eine Menge tierische und menschliche Räuber außerhalb der dichten Siedlungen, die nur einen sehr kleinen Teil des unübersichtlichen Landes bedecken. Außerdem gewinnt der Hirt die ihm anvertrauten Lebewesen lieb. In eine typische heutige „Angestellten-Mentalität“ kann er sich unter diesen Bedingungen und Umständen nicht zurückziehen. Von ihm wird sozusagen kategorisch mehr verlangt als das, wofür er bezahlt wird. Er muss ständig „mehr tun als seine Pflicht“.
Wenn die Berufsgruppe, die sich heute „Pastoren“ nennt, das, was die Hirten tierischer Herden – damals in der Antike und heute, auch wenn sie inzwischen eine weitaus seltenere Erscheinung geworden sind, immer noch – leisten müssen, in vergleichbarer Weise, unter den gleichen Arbeitszeitbedingungen und auf demselben Entlohnungsniveau leisten müsste, würde das bei ihnen wohl manche Perspektiven stark zurechtrücken. Einer der wenigen in Deutschland heute noch aktiven echten Hirten hat diese aufschlussreiche Bemerkung letztes Jahr einmal im Interview mit einem theologischen Podcast fallen gelassen.
Plötzlich erkennen wir an den Hirten, die im Lukasevangelium an der Krippe Jesu stehen und knien, einige zuvor nicht so merklich gewesene Charakteristika: Weil sie einen Daseinszweck repräsentieren, der grundsätzlich jede Ausdrückbarkeit und Honorierbarkeit in Geld, also in materiellem oder sonstigem vordergründigem weltlichem Lohn übersteigt, darum schlummert in jedem von ihnen bei aller irdisch-äußerlichen Niedrigkeit gewissermaßen das Potenzial zu etwas Königlichem. Mittels zweier sehr widersprüchlicher erzählerischer Konstrukte lassen die beiden Evangelisten Matthäus und Lukas (Markus und Johannes tun es nicht) den zweifellos aus Nazareth in Galiläa stammenden Jesus jeweils in Bethlehem in Judäa zur Welt kommen; sie dichten ihm diesen Geburtsort an, weil sie Jesus als den Messias verkünden, der traditionell aus dem Königsgeschlecht Davids erwartet wird. Indem es sich bei ihnen um Hirten aus der Umgebung Bethlehems handelt, erscheinen die ersten Besucher an der Krippe Jesu also nur umso mehr als Anspielung auf David. David war jedoch ein Sohn des Eigentümers der Herde, die er hütete – nur der jüngste zwar, aber dennoch immerhin mehr als ein bloßer Lohnknecht. Die Hirten in der Erzählung des zweiten Lukas-Kapitels haben keinen erwähnenswerten irdischen Vater – aber der, zu dessen Geburtstag sie eilen, ist jener, welcher allen Menschen klar machen wird, dass sie alle Kinder des einen Vaters im Himmel sind, und nicht bloß seine Knechte.