Nun werden also zum ersten Mal in der Geschichte des Christentums einzelne römisch-katholische Priester, mit sich selbst allein, weltweit die österliche Liturgie vor leeren Kirchenräumen zelebrieren.
Zur Erinnerung: Der charakteristische architektonische Grundtypus eines Kirchengebäudes, die Basilika, entwickelte sich im vierten Jahrhundert u.Z. genau deshalb aus dem römischen Modell einer Markthalle, weil es im Vergleich mit allen anderen damaligen Religionen eine Eigentümlichkeit der christlichen Glaubenspraxis darstellte, dass diese sich in liturgischer Hinsicht als Versammlung des Volkes im Innenraum des Tempels definierte, während alle anderen Religionsgemeinschaften sich selbstverständlich VOR den Heiligtümern ihrer Götter versammelten, so wie man ja auch in irdischen Beziehungen nicht einfach ins Wohnzimmer eines Anderen, geschweige denn eines Höhergestellten eindringt. Noch im Jerusalemer Tempel war das so gewesen – aber nach dessen Verlust (70 u.Z.) entwickelte das aufkommende rabbinische Modell des Judentums die Vorstellung, dass sogar das öffentliche Pflichtgebet, obwohl man gerade den bloßen Akt des Betens rein „technisch“ betrachtet ja auch als ganz individuell ausführbar definieren könnte, das räumliche Zusammenkommen von mindestens zehn erwachsenen Männern als Voraussetzung für die gültige Erfüllung dieser religiösen Pflicht erfordere. Dabei gibt es allerdings keine Vorschrift des Ortes. Die Kirche hingegen sah den Tempel Israels als wiederhergestellt an – wenngleich in grundlegend erneuerter Form, nämlich nicht länger auf dem geographisch bestimmten Berg Zion, sondern stattdessen in global-missionarischer Vervielfältigung, als kühne Weiterentwicklung der großen prophetischen Vision eines universalisierten Israel in Jesaja 56. Zum wahren Gott kann jeder Mensch jederzeit einfach in die innerste Stube kommen – das ist die spektakuläre Botschaft, die die Kirche, gegen alle anderen Kulte, schon allein baulich verkörpert.
Deshalb gehört es logischerweise wesentlich zum kirchlichen Glaubensvollzug und Glaubensausdruck, dass zu den bestimmten heiligen Zeiten die ganze Gemeinde auch tatsächlich räumlich-körperlich um den Altar zusammenkommt. Die klerikale „One-Man-Show“, ganz zu schweigen von deren noch gesteigerter publikumsloser Variante, widerspricht mithin deutlich den ursprünglichen und eigentlichen geistigen Grundlagen der christlichen Theologie.
Meine persönliche Meinung dazu: Aus mystisch-spiritueller Sicht ist selbst eine theologische Bankrotterklärung nichts Schlimmes – die Voraussetzung dafür, dass eine bankrotte Theologie Platz machen kann für „einen neuen Himmel und eine neue Erde“, lautet allerdings, dass der Mensch sich seinen vernunfttheologischen Bankrott auch schonungs- und rückhaltlos eingesteht.
Wahrscheinlich hätte die römisch-katholische Kirche den vom Coronavirus verursachten staatlichen Versammlungsverboten weniger widerspruchslos, eilfertig und totalkapitulationsartig nachgegeben, wenn sie nicht zuvor schon seit Jahrhunderten eine höchst fragwürdige theologische Entwicklung kultiviert hätte, derzufolge die Substanz der Kirche am amtspriesterlichen Handeln hängt, und zwar zur Not unter Absehen vom Verhalten des gesamten laienhaften Rests der Christenheit. Die amtskirchlicherseits de facto vertretene Entbehrlichkeit des „Volkes“ entpuppt sich nun, zu Ostern 2020, in der bildlichen Gestalt der absurd allein zelebrierenden Priester vollends als eine Groteske, die dem ohnedies schwer angeschlagenen Image der römisch-katholischen Kirche den Rest gibt.
Dabei sind die staatlichen Maßnahmen gegen das Coronavirus in Deutschland ja bisher im Großen und Ganzen zustimmungswürdig, und an dieser Stelle soll auch keinesfalls die Auffassung vertreten werden, die Kirche hätte sich den von der weltlichen Obrigkeit mit relativ leichter Hand dekretierten hygienischen Versammlungsbeschränkungen von Anfang an unter Berufung auf die grundgesetzliche Religionsfreiheit vehement verweigern sollen.
ABER: Die Kirche hat die betreffenden, vielleicht ein bisschen zu selbstherrlichen Anordnungen der Regierenden enttäuschenderweise nicht einmal eine Sekunde lang hinterfragt, so als gäbe es hier überhaupt kein verfassungsrechtliches Problem, auf das die Kirche im Interesse ihres gesellschaftlich-kulturellen Status vernehmlich hinweisen muss. Es musste erst der angesehene Staatsrechtsprofessor Oliver Lepsius den markanten Satz formulieren: „Die Kirchen sollten jetzt vor allem eins tun: Eine Ausnahme fordern für Gottesdienste an den höchsten christlichen Feiertagen. Wenn sie ihre Grundrechte nicht einfordern, verlieren sie als Institution auch die religiöse Autorität. Die Religionsfreiheit ist dann jedenfalls beliebig abwägbar. Das droht allen Freiheitsrechten, wenn wir als Träger dieser Freiheit nichts dagegen tun, sondern uns mit einem diffusen Regelungsziel ‚Kampf gegen das Virus‘ zufrieden geben und Rechtsgüter nach einer ‚Systemrelevanz‘ differenzieren.“ („Verfassungsblog“, 6.4.2020)
Lepsius hat erhellend darauf hingewiesen, dass es zwischen Grundrechten keine Hierarchie gibt und dass „Schutz des Lebens“ nur in Situationen, in denen die Zusammenhänge als sehr konkret und unmittelbar darstellbar sind, über die anderen Grundrechte gestellt werden kann. Eine Argumentation, derzufolge diese oder jene Grundrechte eingeschränkt werden sollen, „denn wir KÖNNTEN dadurch ja VIELLEICHT ein Leben retten“, ist verfassungsrechtlich unzulässig, weil diese Art von Argumentation evidenterweise sehr schnell einen völligen Kontrollverlust über den staatlichen Umgang mit jeglichen Grundrechten nach sich ziehen würde; denn mit „könnte vielleicht“ lässt sich bekanntlich immer und überall bequem argumentieren. Lepsius zeigt überzeugend auf, dass der Zusammenhang zwischen den staatlichen Maßnahmen und dem beabsichtigten Lebenserhalt im Fall der derzeitigen Coronavirus-Pandemie ganz klar ein bloß indirekter ist: Wer wann woran wie schwer erkrankt (Stichwort: Wer ist wirklich „an“ Corona, wer eigentlich eher „mit“ Corona gestorben?) ist eine hyperkomplexe Frage, und Ziel der öffentlichen Maßnahmen ist explizit nichts anderes als die pragmatische Prophylaxe gegen eine Überlastung des Gesundheitssystems, wie alle medizinischen Experten unisono präzise formulieren – für ein Hintanstellen anderer Grundrechte zwecks „Schutz von Leben“ reicht der so dargestellte Zusammenhang juristisch eindeutig nicht aus. Schon der unerträglich beliebte Slogan „Flatten the Curve“ lässt ja erkennen, dass es hier um Statistik geht und nicht um Leben. Die Statistikkarte sticht die Verfassungskarte aber in keiner Variante unseres gesellschaftlichen Spiels.
Darauf, dass die drastische Zunahme von häuslicher Gewalt und Suiziden infolge der undifferenzierten allgemeinen Ausgangsbeschränkungen unter eine seriöse Opferbilanz der Pandemie mit aufzunehmen ist, will ich an dieser Stelle gar nicht näher eingehen.
Damit ist klar, dass wir nach drei Wochen Ausnahmezustand jetzt dringend dergestalt schrittweise zur Normalität zurückzukehren haben, dass zuerst die Gültigkeit der Verfassung und der Grundrechte in vollem Umfang wiederhergestellt wird, um die gesellschaftlich überlebenswichtige kulturelle Wirksamkeit der letzteren nicht noch weiter zu beschädigen: Zuallererst müssen die Entscheidungsprozesse über das weitere Vorgehen gegen die Pandemie wieder sauber konstitutionalisiert werden. Föderalistische Pluralität ist dabei zu bejahen und zu begrüßen, auch daran hat Professor Lepsius dankenswerterweise keinen Zweifel gelassen.
Die Kirche wäre mitverantwortlich dafür gewesen, diesen wichtigen Einspruch zu erheben. Sie hat an dieser Aufgabe mit ihrem geradezu vorauseilenden selbst-suspendierenden Gehorsam gegenüber dem Staat im März 2020 eklatant versagt und so ihren im Gange befindlichen Bedeutungsverlust noch weiter verschärft.
Früher gingen Menschen gerade während Epidemien in die Kirche. Aus heutiger positivistischer Sicht der Dinge war das freilich nicht klug. Aber vielleicht waren die Möglichkeiten des kollektiven Frömmigkeitslebens doch auch gut fürs Immunsystem. Die russisch-orthodoxe Kirche jedenfalls sieht das anscheinend heute noch so – und wie man hört, traut Zar Putin sich nicht, gegen den selbstbewussten kirchlichen Bruch des staatshygienischen Versammlungsverbots in seinem Land energisch vorzugehen. Damit sind die Russisch-Orthodoxen derzeit zwar gewiss nicht die vernünftigeren, aber doch in gewisser Hinsicht „leider“ die glaubwürdigeren Christen. Natürlich ist diese Angelegenheit gerade für eine aufgeklärte und trotzdem zugleich mystisch-fromme Kirche, wie ich sie mir wünsche, ein großes Dilemma. Gewiss wären die deutschen Kirchen an Ostern gerade dieses Jahr so voll, dass man in der Praxis nicht jede zweite Bankreihe freilassen und zusätzlich anderthalb Meter Abstand zum Nächsten einhalten könnte, und dieses Problem darf keinesfalls fanatisch-verblendet ignoriert werden.
Aber wenigstens den Mut und das geistige Format, die damit zusammenhängende notwendige heikle Debatte über bedeutsame aktuelle gesellschaftliche Grundsatzfragen anzustoßen und in Gang zu halten, eine Debatte, die zu führen noch dazu unsere Verfassung von uns fordert, hätte man sich in der aktuellen Lage von den großen Kirchen in Deutschland schon erhoffen dürfen – leider komplette Fehlanzeige.