„Auf einer organisatorischen Basis, die überwiegend privat ist (lasst es uns mal so ausdrücken), mit einem Schiff aufs Mittelmeer nahe der libyschen Küste rauszufahren, dort auf schiffbrüchige Migranten zu warten, die von Schleppern absichtlich auf seeuntüchtige Boote gesetzt wurden, und die Geretteten dann in einen Hafen zu bringen, dessen zuständige Regierung, nämlich die italienische, genau dies rechtskräftig untersagt hat, und dies alles deshalb zu tun, weil man der Meinung ist, dass derjenige, der Lebensrettung sabotiert, von einer höheren Warte aus eh nichts zu melden hat“ – das ist die aktuelle moralische Problemlage: Darf man das?
Wie kriegt man eine Antwort hierauf so kurz wie möglich?
Die Philosophie streitet über zwei Grundansätze der Ethik. Sie streitet seit Jahrtausenden. Wir dürfen also getrost davon ausgehen, dass es unmöglich ist, jemals zu entscheiden, dass der eine Ansatz dem anderen eindeutig vorzuziehen sei. Der eine Grundansatz, ich schließe mich der simplen Benennung „A-Ethik“ an, stellt die einzelne menschliche Person in den Mittelpunkt der Betrachtung. Weil einzelne Menschen aber im großen Endeffekt nur vergleichsweise wenig beeinflussen und kontrollieren können, geht es bei diesem ersten Grundansatz zentral um Begriffe wie etwa „Gesinnung“, „Gewissen“, „Pflicht“ und „Tugend“. Der andere Grundansatz, die „B-Ethik“, rückt „das große Ganze“ in den Mittelpunkt. Weil „das große Ganze“ aber ein klassischer Kandidat für „Verantwortungsdiffusion“ ist, geht es bei diesem zweiten Grundansatz zentral um den Versuch, irgendwie vernünftig zu bestimmen, wie denn eigentlich das „insgesamt relativ beste Endergebnis“ oder die „relativ befriedigendste pragmatische Lösung“ definiert werden sollte.
Beide Grundansätze haben allerdings auch richtig hässliche Schwachstellen. Die richtig hässliche Schwachstelle der A-Ethik ist, dass sie dem menschlichen Ego besonders gut gefällt und daher eine prägnante Anziehungskraft auf Egozentriker und Narzissten ausübt. „Pure“ A-Ethik trägt auf diese Weise erheblich zu einer fatalen moralischen Überbewertung (im Falle von Narzissten) oder moralischen Überbeanspruchung (im Falle von Nicht-Narzissten) des menschlichen Ichs bei. Die richtig hässliche Schwachstelle der B-Ethik hingegen ist, dass sich hinter den überbreiten Wattepolsterschultern des rhetorischen Wichtigtuer-Jacketts, das sich dem schmächtigen Skelett an wirklich soliden Erkenntnissen darin perfekt anpassen lässt, jeder x-beliebige Gewissensfaulpelz überaus behaglich pseudo-argumentativ in seiner amoralischen Selbstgefälligkeit einnisten kann. Für alle, die diesen Satz jetzt nicht verstanden haben, hier nochmal einfacher: „Pure“ B-Ethik nährt wegen ihrer vertrackten intellektuellen Komplexität nahezu beliebig auch die scheinheiligsten Argumentationen einer bloß vorgetäuschten Moralität. Letzteres ist es, was derzeit bevorzugt Rechtspopulisten mit der B-Ethik anstellen.
Spricht ihr Missbrauch durch Rechtspopulisten gegen die B-Ethik? Nicht stärker, als das Vorkommen von Gutheits-Narzissten gegen die A-Ethik spricht. Gutheits-Narzissten sind genauso verheerend wie Rechtspopulisten, da lohnt sich keine Diskussion darüber, welches der beiden kranken Phänomene mehr oder weniger schlimm ist als das andere.
Einzig denkbare überzeugende pragmatisch-moralische Lösung: Der Sinn des dualistischen Existierens von A-Ethik und B-Ethik ist, dass diese beiden einander ständig gegenseitig zu regulieren haben als ein Gespann von „Agonist und Antagonist“, wie man in der Biologie sagen würde. Die richtige Mischung macht’s. Und diese richtige Mischung muss wahrscheinlich fallweise immer wieder neu bestimmt, kalibriert und justiert werden. Wie ist angesichts dieser letzten Feststellung aber nun wieder ein Einreißen von scheinheiliger Beliebigkeit zu verhindern? Ganz einfach: Immer müssen beide ethischen Grundelemente innerhalb jeder einzelnen moralischen Angelegenheit deutlich erkennbar bleiben – diese simple und doch anspruchsvolle Regel vereitelt, dass sich hier Unmoral hinter Scheinmoral verstecken kann.
Nun tritt noch ein spezifisch Christliches hinzu: Jesus schreibt für seine Anhänger ganz klar fest, dass die A-Ethik immer einen gewissen Vorrang zu genießen hat vor der B-Ethik. Die Beweisführung aus dem Evangelium spare ich mir hier, liefere sie aber jederzeit gerne nach.
Manche Christen scheinen heute dem Irrtum verfallen zu sein, dies bedeute einen Ausschluss der B-Ethik durch Jesus. Diese Auffassung ist absurd. Solche Einseitigkeit könnte niemals funktionieren, und auch Jesus wusste das. Jesus schreibt lediglich fest, dass die B-Ethik für Christen immer nur die Rolle des Korrektivs einzunehmen hat, niemals die Rolle des tonangebenden Elements einer ethischen Argumentation. Als Christen sollen wir immer von der A-Ethik ausgehen und dann mittels der B-Ethik als Kontrollgerät aufmerksam checken, wo wir uns A-Ethik-geleitet vielleicht in ein Übermaß, eine Selbstüberschätzung, einen Fanatismus verrennen.
Wie sieht also nun die Sache mit Käpt’n Rackete aus dieser echt christlichen Perspektive betrachtet aus?
Erstens: Vorwurf, den libyschen Schlepperbanden „in die Hände zu spielen, weil in deren Opfern die verzweifelte Hoffnung zusätzlich genährt wird, dass ja sowieso ein Rettungsschiff da draußen knapp hinterm Horizont auf sie wartet“: Ziemlich komplexe und dabei auch noch vergleichsweise recht abstrakte Argumentation, zusammengesetzt aus vielen gründlich differenzierungs- und klärungsbedürftigen Einzelprämissen – so etwas akzeptiert die jesuanische Ethik nicht. Abgehakt, mit diesem Einwand brauchen sich die Seenotretter als Christen nicht herumzuschlagen.
Zweitens: Vorwurf, so etwas nicht machen zu dürfen, wenn nicht von vornherein ein verlässlicher Zielhafen für die zu Rettenden feststeht: Hierbei kommt es wesentlich auf die innerliche Einstellung der Handelnden an. Bei jeder gefährlichen Handlung, bei der das Risiko fürs eigene Überleben im Vorfeld einigermaßen vernünftig auf geringer als fünfzig Prozent veranschlagt werden durfte, kann ein am Ende eventuell doch eintretender fataler Ausgang aus christlicher Sicht potenziell auch als Martyrium eingestuft werden, sofern die bewusste geistige Haltung der Handelnden dieser Auffassung tatsächlich entsprochen hat. Nur Suizid ist im Christentum verboten, und Suizid ist hier zu definieren als eine von vornherein offensichtliche Lebensgefahr von mehr als fünfzig Prozent. Der letztere Fall liegt bei den mutigen Seenotrettern im Mittelmeer nicht vor.
Bleibt als dritte und letzte kritische Frage nur die, was mit dem Versuch ist, mit dem eigenen einzelmenschlichen (oder kleingrüpplichen) Handeln bestimmte politische Konsequenzen zu erzwingen. Denn darum geht es ja offensichtlich, wenn staatliche Vorgaben hinsichtlich des Anlaufen eines Hafens ostentativ ignoriert werden. Auch das kann unter bestimmten Umständen aus christlicher Sicht gerechtfertigt sein. Jesus hat uns nicht gelehrt, dass staatliche Strukturen als solche immer recht haben. Ob entsprechende außerordentliche politische Umstände in diesem Fall tatsächlich vorliegen, ist allerdings eine überaus diskussionswürdige Frage. Als absoluter Normalfall sollte die derzeitige rechtspopulistische italienische Regierung immerhin hoffentlich nicht zu bezeichnen sein. Aber wenn eine etwaige behauptete Christlichkeit der Gesinnung hinter einer „Piraterie der Humanität“ wirklich echt ist, dann gehört zu ihr auch die Bereitschaft, in aller Konsequenz für das eigene Handeln und dessen beabsichtigte moralpolitische Signalwirkung in ein italienisches Gefängnis zu gehen – notfalls auch für zwanzig Jahre -, und letztlich nicht allzu sehr auf die strafverkürzende Schützenhilfe einer internationalen volkszornigen Basisbewegung zu spekulieren. Da wären wir wieder beim Stichwort Martyrium.
Im Sinne einer echt christlichen Korrektur der A-Ehtik durch die B-Ethik wäre es freilich moralisch ebenso völlig legitim gewesen, den Moment, in dem eine formell einigermaßen ordnungsgemäß vom Volk gewählte Regierung die ihr unterstehenden Häfen verschließt, welches die Häfen sind, die man für die eigene Mission benötigt, als den Moment zu erkennen, in dem die B-Ethik ihre Korrekturfunktion tatsächlich fühlbar geltend macht, und daher eine Seenotrettungsmission im Mittelmeer einstweilen einzustellen. Wie jeder andere Mensch, so muss auch jeder Christ selbst und letztlich allein entscheiden, ab welcher Windstärke er dem Sturm den Rücken kehrt.
Letztenendes befürworte ich für Christen das Konzept „Berufungsethik (Ethics of Calling)“, die als „C-Ethik“ ein zusätzliches Korrektiv neben der B-Ethik bilden sollte. Derjenige, der nicht schon als Kind sich dafür zu interessieren begann, Boote zu rudern und zu segeln, wird später auch mit erheblich geringerer Wahrscheinlichkeit Kapitän eines Rettungsschiffs im Mittelmeer werden. Unsere individuellen Lebenswege führen uns schlüssig an individuelle Erfüllungsziele. Wir sollten uns von ihnen bewusst und reflektiert führen lassen. Das geht so weit, dass man sagen kann: Was für den Einen bloßer Suizid wäre, kann beim Anderen ein echtes Martyrium darstellen. Diese Erkenntnis sollte uns generell zurückhaltender machen im Herausposaunen moralischer Urteile.
Ich mag kein zusammenfassendes Urteil aussprechen, aber ich hoffe ich konnte aufzeigen, worin die Kriterien für unser christliches Urteil über diese Vorgänge zu bestehen haben – und diese Kriterien sind meines Erachtens durchaus eindeutig genug.