Irgendwas mit Gott und Analyse

„Irgendwas mit Gott: Was hält die wissenschaftliche Theologie als Fach zusammen?“ titelte Aaron Langenfeld, Dogmatiker in Vechta, auf „Feinschwarz“ am 28.09.2020. Aus bester Sach- und Fachkenntnis porträtiert er die methodischen „Ismen“, in die Theologietreiben seit rund einem halben Jahrhundert dramatisch zerfällt. Heute nennt man sie zwar lieber „Analysen“ (Transzendental-Analyse, Diskurs-Analyse usw.), ansonsten aber unterscheidet sie von den alten „Ismen“ nur ihre größere Anzahl. Dieses Gesamtbild der aktuellen systematischen Theologie kommt mir, mit Verlaub, ein bisschen so vor wie das pittoreske Panoptikum irrer Propheten im „Leben des Brian“: Jedes der interessanten Individuen folgt mit manisch-schizoider Inbrunst nur noch seinem eigenen Spleen.

Vorkonziliaren Denk-Zentralismus wollen wir freilich nicht wieder hervorkramen. Was wollen wir? Wir wollen eine „funktionierende“ Theologie. „Funktionierend“ heißt: den Menschen, und zwar auch all denen, die nicht studiert haben, konkret und praktisch nützend und geistig-geistlich „nahrhaft“.

Langenfeld selbst zieht folgenden Schluss: „Gesucht ist eine Form der Hermeneutik, der es nicht nur um das Verstehen an sich, sondern zugleich um den Willen zum richtigen Verstehen geht. Es geht um die Grundhaltung, in kritischer Absicht die Potenziale der verschiedenen Denkformen für sachliche Probleme und Fragestellungen zu würdigen. Gesucht wird die Bereitschaft, einmal erreichte Einsichten immer wieder neu auf den Kopf zu stellen.“

Viele Theologiestudent*innen werden da mitgehen. Christ*innen außerhalb der Uni hingegen suchen kaum „Hermeneutik“, sondern geistliches Futter und mediale Seelsorge. Sie wollen nicht „Potenziale würdigen“, sondern ihr Leben besser hinkriegen. Sie wollen ihre Einsichten nicht immer wieder auf den „Kopf“ stellen, sondern endlich mal auf die Füße. Wenn jemand einwendet, Wissenschaft sei doch nicht dazu da, ungefiltert mit einfachen Leuten zu reden, kann ich nur sagen: Zumindest bei der Theologie halte ich das für falsch.

Wird „geistliches Futter und mediale Seelsorge“ entlang der qualitativ „nach oben blinden“ Messlatte des Buchmarktes konzipiert, bleibt das Angebot à la Anselm Grün für viele Interessenten christlicher Spiritualität zu niederschwellig. Aber „hohe“ Theologie für das „Volk“ durch „Multiplikatoren“ gnädig „herunterzubrechen“ ist auch keine Lösung. Die Theologie selbst muss ihrem ganzen Wesen nach direkt anschlussfähig sein an die breiten Ströme spiritueller Suchbewegung.
Was tun?

Erstens: Biblische und historische Kompetenz muss stärker zur Voraussetzung für systematisches Theologietreiben werden. Das erschwert es, ins frei flottierende Phantasieren abzudriften. Dieser Ansatz ist nicht „bloß konservativ“: Muss Sich-Reiben an Vorgegebenem nicht als genuiner Teil echter Bildung erscheinen? Bleibt, wo solche Reibung eskamotiert wird, nicht bloß „fake education“?

Beispiel: Zum Thema „Unser täglich Brot“ wollen Theologen sich mit Soziologen interdisziplinär austauschen? Prima – aber bevor sie das tun, sollten sie sich damit auseinandergesetzt haben, dass das Wort „epioúsios“ im Vaterunser nicht unbedingt „täglich“ heißt, sondern mangels anderweitigen Vorkommens eigentlich nicht verlässlich übersetzbar ist.

Oder: Wenn mir das Faktenwissen abverlangt wird, warum Heinrich IV. im Januar 1077 Papst Gregor VII. auf Burg Canossa im Unterhemd besuchte, birgt das eine Chance für die gesunde Skepsis, ob die beiden mich ernst genommen hätten, wenn ich ihnen vorgeschlagen hätte, ihre Konfrontation doch mal transzendental und diskursanalytisch anzuschauen.

Zweitens: Theologen brauchen einen spirituellen Erfahrungshorizont. Er verhindert „akademisch-psychedelische Trips“, weil er in denkerische Inflationsblasen mit dem Hinweis sticht, dass „Fleisch-Werdung“ Gottes eine Spiritualität bevorzugt, die „geerdet“ bleibt und die „Bodenhaftung“ nicht verliert. Damit kann durchaus in Konflikt geraten, dass der amtliche Katholizismus seit 1850 mit apodiktischer Exklusivität auf Sakramente, Liturgie und Formalgebet fokussiert hat – was jedoch für kein befriedigendes Konzept von Spiritualität ausreicht.

Wer sich für ein Wochenende in die Stille abgeschiedenen Alleinseins zurückzieht, sich für diese Zeit Schweigen auferlegt und sich vornimmt, den ungewohnten Leere-Zustand nicht mit Vermehrung der Denkaktivität zu kompensieren, wird eine spirituelle Erfahrung machen. Die subjektive Wahrnehmung einer akademischen Umwelt wird sich danach deutlich verändern: Die Relevanz worthaften Erkennens relativiert sich neben einer Erkenntnis, die sich Worten entzieht.

Drittens: Theologen brauchen daseinspraktische Lebenserfahrung außerhalb von Kirche und Universität, um nicht übersteigerter Ideen-Verliebtheit zu erliegen.

Paulus war Zeltmacher. Er wollte nicht „vom“ Evangelium leben, sondern für es. Seine Theologie kennen wir nur in Briefform.

Ignatius von Antiochien schrieb seine Briefe auf der Reise zu seiner Exekution in Rom.

Die Wüstenväter suchten Spiritualität überhaupt nur im Spiegel der alltäglichen elementaren Herausforderungen des eremitischen Daseins in der Wüste; dogmatische Spekulation sucht man bei ihnen vergebens.

Bischof Athanasius von Alexandria wurde fünf Mal aus Amt und Stadt vertrieben.

Augustinus erlebte viel und hatte einen Sohn, ehe er als Bischof öfter am Schreibpult zu sitzen begann – meistens jedoch saß er auf dem Richterstuhl.

Benedikt schöpfte die Klugheit seiner Mönchsregel aus einer Menschenkenntnis, die er sich als Student mit weltlichem Karriereziel in Rom erworben hatte.

Franziskus verwandelte überhaupt nichts anderes als seine eigene visionäre Lebensweise in eine neuartige Theologie.

Der scheinbar so entrückte Mystiker Meister Eckhart verfügte als Provinzoberer der Dominikaner über die Kompetenzen eines Top-Managers.

Das weltliche Leben Martin Luthers füllt kinoerfolgreiche Historiendramen.

Ignatius von Loyola half eine Kanonenkugel auf die Karrieresprünge.

Außer Thomas von Aquin hatte unter den wirksamsten Theologen der Kirchengeschichte kaum einer eine lineare Gelehrtenkarriere.

Es besteht insofern eine Ähnlichkeit zwischen der Theologie und der Beschäftigung mit musischen Künsten, als hier wie dort akademisches Studieren zwar die Qualität der Resultate steigert, allen wirklich befriedigenden Beiträgen aber Fähigkeiten vorausgesetzt sind, die sich nicht an einer Hochschule erwerben lassen, sondern aus einer informellen „Privatsphäre“ der „Begabung“ ins Studium mitgebracht werden müssen. „Theologische Begabung“ besteht aus der Anlage zur Kontemplation, zur Mystik, zu einer ganzheitlichen Ergründung des Menschendaseins und der Welt, zu einem Generalist-Sein, das den irdischen Gratifikationen von Spezialistentum entsagt.

Vielleicht ist die gegenwärtige Theologiekrise auf eine „Illusion“ darüber zurückzuführen, welcher Wissenschaftsbegriff für die Theologie in Frage kommt: Weil sie Standards und „Moden“ anderer Geistes- und Kulturwissenschaften angepasst werden soll, verdrängt sie die unbequeme Wahrheit, dass sie engmaschig spiritueller und „lebensganzheitlicher“ Checks bedarf.

Das heißt nicht, dass Theologie an heutigen staatlichen Hochschulen nichts verloren habe. Im Gegenteil: Wer „Postmoderne“ ernst nimmt, muss auch eine verantwortete Diversifizierung des Wissenschaftsbegriffs begrüßen.

Den ihnen zustehenden methodischen Eigenweg zu beanspruchen, fehlt vielen Uni-Theologen derzeit anscheinend der Mut. Infolgedessen geht es in der systematischen Theologie nicht anders zu als in der Soziologie. Ihre eigentliche besondere Aufgabe erfüllt Theologie damit nicht.

Theorie-kreative Extravaganz zum intellektuellen Standard zu erheben ist schlicht paradox. Gedanken können nicht durch andere Gedanken berichtigt werden, sondern nur durch Erfahrung. Albert Einstein fasste es so: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“

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