8. Dezember: Hochfest der Unbefleckten Empfängnis Mariens. Ernsthaft? So ein Thema auf meinem Blog? Bin ich von konservativeren Blogger-Kollegen gehackt worden?
Nein, ich betrachte diesen Anlass als Gelegenheit, mal wieder ein bisschen „Hardcore-Theologie“ zu treiben, um auch zu diesen exklusiven Geistessphären nicht völlig den Kontakt zu verlieren – und sei es auch nur zu „Trainingszwecken“ -, und zu überprüfen, ob ich derlei noch darauf habe. Wär doch traurig bis tragisch, wenn wir „offenen“ Theologen irgendwann über das beschauliche Niveau von „Diskursanalysen“ nicht mehr hinaus kämen, während unsere konservativen Kollegen weiterhin ihren Geist an den spröden „guten alten“ Materialien des Fachs geschliffen halten.
Am 8. Dezember 1854 verkündete Papst Pius IX. in seiner Bulle „Ineffabilis Deus“ das Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariens (Conceptio immaculata). Hubert Wolf hat in seinem Buch „Der Unfehlbare“ (2020) detailliert aufgezeigt, welchem machtpolitischen Alleingang die Dogmatisierungen Pius IX. dienten, die einem bis dahin in der katholischen Kirche völlig unüblichen papst-autoritären Procedere folgten, und dass es in diesem Sinne beim Dogma von 1854 keineswegs bloß um dessen Inhalt ging, sondern dass es sich dabei sehr bewusst bereits um einem formalen Testlauf im Hinblick auf jenes zweite Pius-Dogma handelte, das auf dem Ersten Vatikanischen Konzil durchgeboxt wurde, welches der Mastai-Papst nicht zufällig auf den Tag genau fünfzehn Jahre später am „unbefleckten“ 8. Dezember 1869 eröffnen ließ: die Unfehlbarkeit des Papstes.
Christus hat uns durch seinen Kreuzestod und seine Auferstehung von unserer Sünde erlöst, schreibt Paulus (Röm 3,21-26). Der Apostel schreibt weiter: „Durch einen einzigen Menschen (gemeint ist Adam) kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil ‚eph‘ hô‘ alle sündigten.“ (Röm 5,12) Die Vulgata, die kirchlich verbindliche lateinische Übersetzung des griechischen Neuen Testaments, gibt das etwas kryptische „eph‘ hô“ mit „in quo“ wieder, was sich – wenn auch nicht zwingend – auf den besagten „einen einzigen Menschen“, nämlich den ersten Menschen, Adam, beziehen lässt: „In ihm haben alle gesündigt.“
Auf der Grundlage dieser Übersetzung interpretierte Augustinus (354-430) in Röm 5,12 sein Konzept der „Erbsünde“ hinein, die der Einzelne nicht erst selbst begehen muss, sondern die er von seinem Urvater Adam vererbt bekommt, und erlangte mit dieser Doktrin (siehe „De Civitate Dei“, 13. und 14. Buch) als Kirchenlehrer glaubensverbindlichen Status.
Das Konzil von Chalcedon definierte im Jahr 451 in Abwehr verschiedener damals im Schwange befindlicher christologischer Häresien ebenso verbindlich die „zwei Naturen Christi“: Jesus sei „ganz Gott und ganz Mensch“.
In dieser dogmatischen Situation begannen scharfsinnige Theologen ein logisches Dilemma zwischen den lehramtlich fixierten Aussagen der Kirche zu erkennen: Wenn Jesus nicht nur ganz Gott, sondern auch ganz Mensch ist, und wenn zugleich die konstitutive Sündhaftigkeit des Menschen eine Erbsünde ist, dann muss auch Jesus bei seiner Empfängnis in seiner Mutter von der Erbsünde gekennzeichnet gewesen sein. Später im Leben Jesu mochte ja alles mögliche passiert sein, was diesen Fehler sozusagen göttlich „reparierte“ – aber initial war er zunächst einmal („Erb“-)Sünder so wie alle anderen Menschen auch. Oder? Nein, mit diesem Befund war vielen gebildeten antiken Christen unbehaglich zumute. Sünde bedeutet Getrenntsein von Gott – aber „ganz Gott“ ist Jesus zugleich auch immer noch. Ist Gott folglich etwa von sich selbst getrennt? Da es damals noch keine Kopfschmerztabletten gab, entschloss man sich, es mit dieser Art von Mystik lieber nicht allzu weit zu treiben.
Wenn die Evangelisten Matthäus und Lukas, die mutmaßlich in den 70er-Jahren des ersten Jahrhunderts u.Z. schrieben, Jesus bzw. seiner Mutter eine Jungfrauengeburt nachsagen, müssen die Gründe für die Entstehung dieses Konzepts ursprünglich nicht notwendig auf das Problem der Sünde fokussieren – möglich ist es aber durchaus, dass die Frage nach der Sünde bereits damals das entscheidende Motiv für dieses Konstrukt war. Allerdings wurde die menschliche Sündhaftigkeit im ersten Jahrhundert definitiv noch nicht als „Erbsünde“ gedacht, sondern als etwas, das jeder Einzelne selbst tut – nur eben erfahrungsgemäß ohne Ausnahme und damit in der Praxis ebenso regelmäßig wie das Auftreten eines genetischen Merkmals.
Das Erbsünde-Konzept des Augustinus verschärfte die theologische Frage nach dem Ohne-Sünde-Sein Jesu. Zwar konnte man sie, wenn man denn wollte, durch das neutestamentliche Jungfrauengeburt-Programm als beantwortet ansehen; aber bei genauerem Hinsehen bildet letzteres gar keine allzu überzeugende Problemlösung, weil Jungfrauengeburt und „unbefleckte Empfängnis“ im Grunde zwei ganz verschiedene Dinge sind. „Unbefleckte Empfängnis“ bedeutet ja gerade, dass trotz eines ganz gewöhnlichen biologischen Zeugungsaktes die Qualität der Erbsünde dabei nicht weitergegeben wird. Wo der zeugende Part der Heilige Geist ist, scheidet jegliche Weitergabe von „Erbsünde“ von vornherein derart triumphal aus, dass die theologische Rede von der vollständigen Menschennatur des Gezeugten dadurch im Grunde schon wieder ad absurdum geführt wird.
In gewisser Weise kann man deshalb mutmaßen, dass das theologische Nachdenken über die „unbefleckte Empfängnis Mariens“ geisteshistorisch seinen Anfang genommen hat in dem Wunsch, den insbesondere nach Beginn der „Erbsünden-Ära“ zunehmend unpassend übergroß erscheinenden gefühlten Abstand zu verringern, der zwischen einer normalen Zeugung und Empfängnis einerseits und der Jungfrauengeburt Jesu andererseits imponiert: Wenn auch ein – wenigstens 1 – „normaler“ Mensch ohne die Erbsünde empfangen werden kann, dann wird dadurch indirekt die behauptete und theologisch so wichtige Menschlichkeit des jungfrauengeborenen Jesus intuitiv etwas nahbarer. „Natürliche“ Kandidatin für diese gleichsam vermittelnde Rolle ist selbstverständlich die Mutter Jesu.
Es darf nicht verschwiegen werden: Die „unbefleckte Empfängnis Mariens“ hat kein überzeugendes biblisches Fundament; Thomas von Aquin lehnte sie ab; ihr erster großer theologischer Verfechter Johannes Duns Scotus „wurde deshalb von weiten Kreisen lange Zeit als Irrlehrer angesehen“ (Hubert Wolf, „Der Unfehlbare“, 2020, S. 196). –
Was aber ist für uns heute an alledem noch tatsächlich theologisch lehrreich im Sinne von etwas für die Gegenwart immer noch Verwertbarem? – Die Vernunft christlicher Theologen hat sich über den größten Teil zweier Jahrtausende hinweg an dem Versuch abgekämpft, transzendente Verhältnisse argumentativ zu plausibilisieren, die sich unseren rationalen Geistesstrukturen kategorisch entziehen. Vergebens war dieser Kampf nicht, weil er maßgeblich dazu beigetragen hat, die typisch europäische Intellektualität zu schulen. Gleichzeitig war als eigentlich theologisches Ergebnis dieses langen, leidenschaftlichen geistigen Ringens die gleichsam qualifizierte Kapitulation vor dem Unerklärbaren entscheidend – die allerdings erst seit dem mittleren zwanzigsten Jahrhundert langsam endgültig konstatiert zu werden beginnt.