Ich glaube, ich muss hier mal was als Historiker anmerken

Historiker, das war das primäre Wesen meiner akademischen Ausbildung.

Der gesellschaftlich-ökonomische „Erfolg“ Deutschlands zwischen ungefähr 1955 und ungefähr 2005 war auf eine Kombination aus hauptsächlich sieben unterscheidbaren Aspekten der Zeitbedingungen zurückzuführen, die heute allesamt historisch obsolet sind.

Erstens: Die Alliierten des Zweiten Weltkriegs kümmerten sich nach dem Krieg sehr gut um Deutschland, weil sie es aus geostrategischen Gründen dringend brauchten, denn der „kalte Krieg“ zwischen ihnen bahnte sich nach 1945 sehr rasch an, worin Deutschland wichtigstes Frontgebiet war.

Zweitens: Die sehr weitgehende Zerstörung Deutschlands im Zweiten Weltkrieg ermöglichte einen flächendeckenden Wiederaufbau auf der Grundlage damals neuester technologischer Standards, deren Entwicklung genau während dieser Nachkriegszeit auch in allen Sparten enorme Fortschritte machte; der entsprechende beispiellose infrastrukturelle Innovationsschub verschaffte Deutschland von da an für mindestens dreißig Jahre einen erheblichen Vorsprung als Industriestandort.

Drittens: Deutschland profitierte nach 1945 durchaus immer noch von dem immensen Know-how, über das es noch aus jenen Zeiten her verfügte, in denen das Deutsche Reich (nämlich zwischen 1871 und etwa 1940) „das“ Weltzentrum naturwissenschaftlich-technologischer Forschung und Entwicklung gewesen war – so sehr, dass damals beispielsweise ambitionierte Physiker weltweit ganz selbstverständlich die deutsche Sprache erlernten.

Viertens: Die letztlich weltweiten enormen zivil-industriellen Entwicklungsfortschritte nach 1945, von denen Deutschland aus den eben schon genannten Gründen besonders profitierte, gestatteten es der sich damals neu konstituierenden deutschen Gesellschaft, ihren Begriff von materieller Gerechtigkeit auf ein äußerst simples, ja fast primitives Prinzip der Lebensunterhaltssicherung mittels Erwerbsarbeit nach „Fabrik-Paradigma“ zu gründen und mit dieser Vorstellung fast jedermann zunächst spontan zu überzeugen – welchen fundamentalen Veränderungen und Infragestellungen das Wesen von „Arbeit“ ab spätestens etwa 1980 unterliegen sollte, war 1949 noch nicht absehbar.

Fünftens: Die deutsche Gesellschaft war bis mindestens 1960 sehr weitgehend geeint in ihrer wenig erläuterungsbedürftigen simplen Abwendung von dem, was geschichtlich vorher gewesen war (Nazizeit und Krieg mit völliger Zerstörung des eigenen Landes – auch alle alten Nazis taten während jener Zeit konsequent so, als wären sie keine gewesen) und in ihrem Absorbiert-Sein vom Wiederaufbau, dessen fraglose Notwendigkeit zunächst wenig gesellschaftliche Zielkonflikte aufkommen ließ.

Sechstens: Im Rahmen des „Generationenvertrages“ als Grundlage der 1949 geschaffenen bundesrepublikanischen Sozialordnung hatte zunächst eine „Babyboomer“-Generation ihre durch den Krieg dezimierte Vätergeneration rentenversicherungstechnisch zu versorgen, was volkswirtschaftlich problemlos machbar war – später wurde die Sache rasch komplizierter.

Und siebtens: Die durch intensivierte industrielle Prozesse und wirtschaftsankurbelnden massenhaften Luxuskonsum verursachten Schäden an der natürlichen Umwelt wurden bis 1980 noch sehr weitgehend schlicht ignoriert, erst recht kam noch niemand auf den Gedanken, dass diese Schäden womöglich in einem komplexen globalen Zusammenhang zu sehen sein könnten – damit kommt schließlich auch noch ein einflussreicher Faktor von „Kulturwandel“ ins Spiel.

Deutschland ist heute für andere Länder international-politisch nicht mehr so wichtig, dass diese anderen Länder deswegen unbedingt bevorzugt hier bei uns investieren müssten.

Auf den technologischen Vorsprung unserer Infrastruktur waren wir in den 1950er-Jahren dermaßen stolz, dass wir seitdem versäumt haben, sie zu erneuern – sie ist inzwischen in allen Sparten heillos überaltert, und die jetzt notwendigen Investitionen übersteigen unsere jetzt vorhandenen Mittel bei weitem.

Überdurchschnittliche wirtschaftliche Erfolge eines Landes setzen ein überdurchschnittliches Innovationspotenzial in diesem Land voraus, es geht nicht anders. Der wirklich kreative Kern aller großen, einschneidenden Innovationen, auf denen unsere nationale Wirtschaftskraft bis heute beruht, stammt aber immer noch aus den 1960er-Jahren; seitdem ist auf der „innersten kreativen Ebene“ tatsächlich nur noch sehr wenig nachgekommen, der Fortschritt beschränkte sich im Grunde auf Weiterentwicklungen bereits vorhandener Prinzipien – was sich als wirtschaftliches Potenzial jedoch immer deutlicher erschöpft und „totläuft“. Hätten die Steinzeitmenschen unsere Einstellung besessen, dann hätten wir es inzwischen immerhin zu hyper-perfekten Steinwerkzeugen gebracht. Mit einem anderen Bild gesprochen: Wenn man eine Kette zu lang macht, dann wird sie zu schwer – irgendwann muss man eine Kette der bloßen Optimierungen wieder durch eine echt disruptive Innovation beenden. Eine solche ist in Wahrheit seit Jahrzehnten überfällig, mit zwei Ausnahmen: Genmanipulation und künstliche Intelligenz – ausgerechnet diese beiden Gebiete können einstweilen aber noch keine gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten, weil sie zu umstritten sind, und die ethischen Klärungen, die sie erfordern, noch Jahrzehnte brauchen werden, ehe sie „in der Gesellschaft angekommen“ sind (im Hinblick auf Nuklearenergie dauert dieser Prozess beispielsweise bereits seit über vier Jahrzehnten an und ist noch längst nicht abgeschlossen). Eine überlegene wirtschaftliche Antriebskraft steckt in einer Innovation immer nur dann, wenn deren gesellschaftlicher Nutzen intuitiv-spontan unzweifelhaft ist – wie das beispielsweise im Fall der Großraumflieger von 1969 gegeben war. Die kreativen Wurzeln der Digitalisierung reichen übrigens ebenfalls bereits in dieselbe Zeit zurück; es wäre unkorrekt zu behaupten, diesbezüglich sei um die Jahrtausendwende herum etwas Grundlegendes passiert (wie es oberflächlich vielleicht scheinen mag), sondern die wirklichen Grundlagen der elektronischen Revolution waren zu diesem Zeitpunkt bereits dreißig bis vierzig Jahre alt. Echte besondere neue Schubkraft für die Wirtschaft könnte heute nur aus einem unbestreitbar nützlichen innovativen Durchbruch kommen, der um die Jahrtausendwende herum geschehen sein müsste – damals hat aber kein solcher Durchbruch stattgefunden, sondern wir waren stattdessen alle noch letztlich „linear“ mit den erweiterbaren Möglichkeiten der damals im Grunde bereits zwanzig Jahre alten Computer beschäftigt, auch wenn diese immer kleiner und immer leistungsstärker wurden. Anders, nämlich in Marketing-Sprache ausgedrückt: Wir haben innovationsmäßig in Wirklichkeit nichts mehr „in der Pipeline“.

Der feste „Arbeits“-Begriff der 1950er- und 1960er-Jahre hat sich „postmodern“ völlig aufgelöst und entfaltet keinerlei gesellschaftliche Integrationskraft mehr, im Gegenteil – wir haben unsere „Fair-Share“-Vorstellungen aber viel zu lange viel zu sehr auf ihn gestützt, so dass wir jetzt fatalerweise kein kollektiv akzeptiertes Alternativ-Paradigma finden.

Auch in sonstiger Hinsicht kann von einer „einigen“ Gesellschaft nach 2020 keine Rede mehr sein. Wer sich weltanschaulich nicht verständigen kann, kann aber auch nicht übermäßig produktiv miteinander arbeiten.

Wir sehen, dass der „Generationenvertrag“ aus simplen demografischen Gründen nicht mehr funktioniert, finden bislang aber noch kein gangbares Ausweichmodell – was ebenfalls wiederum eine Menge mit unserer bisherigen Fixierung auf herkömmlich verstandene „Arbeit“ zu tun hat; eine entsprechende Alternativ-Idee ist noch nicht einmal in Sicht, ganz zu schweigen von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die es nach einem entsprechenden vernünftigen Vorschlag dann noch bräuchte, bis dieser einen allgemein akzeptierten Status erlangen könnte.

Zu allem Überfluss zieht die inzwischen völlig unleugbar gewordene globale ökologische Bedrohung durch den Klimawandel und andere menschengemachte Faktoren den gesamten Sinn sehr vieler etablierter bisheriger Möglichkeiten und Modelle ökonomischer Produktivität ganz fundamental in Zweifel und offenbart, dass viele Menschen der Welt besser dienen würden, wenn sie in unserem herkömmlichen Sinne von „Arbeit“ einfach überhaupt nichts mehr täten, anstatt schädliche Dinge zu produzieren, nur weil man diese immer noch marktwirtschaftlich verkaufen kann.

Es gehört zu den unvermeidbaren strukturellen Schwächen der Demokratie, dass sie Politiker unter den Zugzwang setzt, immerfort so tun zu müssen, als wüssten sie – und wüssten es besser als andere -, wie die sich stellenden Probleme zu lösen sind; die Wahrheit ist aber, für diese Probleme gibt es keine Lösung (philosophisch könnte man freilich so weit gehen zu sagen, dass es per Definition überhaupt keine „Lösung“ mehr gibt, sobald etwas wirklich ein „Problem“ ist, sondern jedem echten „Problem“ kann man überhaupt nur noch „entwachsen“).

Liebe Mit-Deutsche, woher soll denn angesichts dieser realistischen Betrachtung der Lage der materielle Überfluss und Luxus kommen, von dem viele von euch in den 2020er-Jahren immer noch träumen?

Ich kann euch nur dringend raten, euch andere, sinnvollere Lebensziele und Daseinszwecke zu suchen.

***

„NACH-TAROCK“, „ELFMETERSCHIESSEN“ ODER „EPIKRISE“ ZU DIESEM BEITRAG:

Ich habe meinen in industriellen Dingen erfahrensten Freund darum gebeten, diesen Beitrag zu beurteilen. Er hat das dankenswerterweise sehr gründlich getan. Er konfrontierte mich mit folgenden kritischen Rückmeldungen und Rückfragen:

1.

„Deine Aussagen, insbesondere zur Infrastruktur, wirken zu pauschal und benötigen Belege. Angesichts der Tragweite der Aussagen würde ich bei jeder eine Fußnote mit Literaturangaben erwarten. – Was die Mittel angeht: Gerade die Entwicklung nach dem Krieg zeigt doch, dass auch bei vollkommen zerstörter Infrastruktur noch was möglich ist.“

Okay, das mit den Belegen kann ich nachvollziehen. Ich habe Zweifel, ob Fußnoten dem Blog-Stil und seiner Leserlichkeit dienlich wären. Ich habe hier meines Erachtens nichts gesagt, was nicht solider Konsens aller seriösen Geschichtsdarstellungen wäre; ich ziehe hier lediglich Schlussfolgerungen daraus. Aber gewiss, es gibt im Internet schon genug „steile Thesen“ ohne Belege. Im folgenden will ich deshalb wenigstens ein paar historische Standardwerke angeben, an denen ich meine Behauptungen messen lassen möchte:

  • Axel Schildt, „Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90“, 2007
  • Dierk Hoffmann, „Nachkriegszeit. Deutschland 1945–1949“, in: Kontroversen um die Geschichte (Teilband), 2011
  • Werner Abelshauser, „Deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1945 bis in die Gegenwart“, 2. vollständig überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage, 2011
  • Gerold Ambrosius, „Die Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland 1945–1949“, in: Studien zur Zeitgeschichte, Band 10, 1977
  • John Lewis Gaddis, „Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte“, 2007

Bei Schildt findet sich folgende Information: Abgesehen vom Wohnraum, dessen Wiederherstellung noch länger dauerte, befand sich Deutschland erstaunlicherweise bereits Ende 1948 hinsichtlich Wohlstand und Modernität wieder auf Vorkriegsniveau – was, so würde ich annehmen, die bereits wiederhergestellte Infrastruktur zwingend impliziert. Drei Jahre nach Kriegsende – das überrascht, zeigt aber, dass es eben auch damals kein Wachstum ohne vorherigen infrastrukturellen Ausbau gab.

Christian Rusche, Senior Economist für Wettbewerb und Strukturwandel beim Institut der Deutschen Wirtschaft, benennt in einer Pressemitteilung des Instituts vom 28. Juni 2023 explizit die marode Infrastruktur in Deutschland als eines der wirtschaftlichen Kernprobleme des Landes.

2.

„Was ist mit unseren Exporten nach China?“

(Gut, er bezweifelt dann im Originaltext seiner Fragestellung gleich selbst, wie stabil China als wirtschaftlicher Partner langfristig wohl sein wird.)

Ich habe mal nachgesehen, was „wir“ nach China eigentlich exportieren: Laut „statista.com“ machten im Jahr 2022 knappe zwanzig Prozent des Werts aller deutschen Exporte nach China Personenkraftwagen (ohne Busse) aus, hinzu kamen weitere knapp zehn Prozent Kfz-Zubehör. Sind Autos wirklich die Branche, mit der wir uns für China so unentbehrlich zu machen hoffen? Der schon erwähnte Christian Rusche beispielsweise schreibt (a.a.O.): „Mit dem Wegfall des Verbrennungsmotors verliert die deutsche Wirtschaft ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal in ihrer Schlüsselindustrie.“ (Außerdem exportierte Deutschland 2022 nicht nur eine wesentlich größere Wertmenge in die USA, sondern sogar nach Frankreich und in die Niederlande jeweils noch etwas mehr als nach China, wie dasselbe Portal zeigt.)

3.

„Könnten Klimaresilienz und Bekämpfung des Klimawandels nicht selber auch zu wirtschaftlichen Wachstumsfeldern werden, auf denen Deutschland brillieren könnte?“

Das wäre eine schöne Perspektive. Die Beurteilung, inwieweit das möglich ist, und welches wirtschaftliche Potenzial sich daraus ergeben könnte, liegt außerhalb meiner fachlichen Kompetenzen. Für mich persönlich ist die Vorstellung allerdings reichlich ungewohnt und befremdlich, dass die bloße „Bekämpfung“ von etwas einen großen, aussichtsreichen und langfristigen „Markt“ darstellen sollte.

4.

„Die meisten von Dir angeführten Punkte waren schon gültig, als Deutschland als ‚kranker Mann Europas‘ galt – doch danach gab es ja nochmals einen ziemlichen Aufschwung, und es ging uns richtig gut… Warum?“

Naja, da hat uns einfach das sehr große und sehr nachhaltige Gesamt- Entwicklungspotenzial der Digitalisierung um die Jahrtausendwende herum noch einmal gerettet, würde ich sagen.

Außerdem war der „Sick Man of Europe“ (ein historisch übrigens viel älteres Label) damals weitgehend nur eine Effekthascherei des britischen „Economist“ („the sick man of the euro“, 1999), die hierzulande mit der ulkigen deutschen Neigung zu Selbstgeißelung emphatisch aufgegriffen und breitgetreten wurde. Im Vergleich zu heute gab es damals noch keinen echten Grund zum Jammern. Wir mussten die Wiedervereinigung finanzieren, und wir haben es gemacht. Ansonsten war die Lage nicht allzu dramatisch. Nicht wirklich.

Ich gebe hier Auszüge aus einem Kommentar von Carsten Brzeski, Chef-Volkswirt der ING Bank, in der Frankfurter Rundschau vom 25.8.2023 wieder, der diesen Sommer einige Aufmerksamkeit erregte:

„Die internationalen Medien überschlugen sich in den Sommerwochen mit einem Thema, das es vor zwanzig Jahren schon einmal gab: Deutschland, der kranke Mann Europas. Effekthascherei oder unangenehme Wahrheit? – Die Zahlen sind deutlich: Deutschland ist Wachstumsschlusslicht in Europa. Kurzfristiger Gegenwind in der Form von Zinserhöhungen, dem Stottern der chinesischen Wirtschaft und hoher Inflation trifft auf strukturelle Probleme, wie Rückstände bei Digitalisierung, Infrastruktur oder Bildung, aber natürlich auch den demographischen Wandel, der Energietransformation und der neuen Rolle Chinas in der Weltwirtschaft. Kein anderes Land wird aktuell mit so einer langen Liste von Problemen konfrontiert. – Vor mehr als zwanzig Jahren schockten angelsächsische Medien zum ersten Mal die deutsche Seele mit dem kranken Mann Europas. Zu wenig ‚New Economy‘, zu träge, mit einer zu teuren Währung in die Währungsunion eingetreten und damit zurecht Wachstumsschlusslicht in Europa. Nach einer Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens folgte eine Phase der Depression, in der in den Talkshows der Republik über den Fall des Landes lamentiert wurde. Es dauerte wiederum eine Weile, bis Gerhard Schröder die Agenda 2010 ankündigte und zusammen mit günstigen Entwicklungen in der Weltwirtschaft das Fundament für mehr als 15 Jahre solides Wirtschaftswachstum legte. Oder in den Worten der internationalen Medien: Wirtschaftswunder 2.0. – Allerdings ist es wie bei dem Cover eines alten Hits: Es gibt immer Unterschiede zwischen dem Original und der Neuauflage. Die Sonderkonjunktur durch EU-Osterweiterung und Chinas Aufholprozess wird es nicht mehr geben. Dafür gibt es zwei andere Unterschiede, die Hoffnung geben. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte Deutschland mehr als fünf Millionen Arbeitslose und übertrat die europäischen Haushaltsregeln. Arbeitslosigkeit ist aktuell nicht das Problem und die Staatsfinanzen gehören zu den stabilsten Europas. Die Liste der strukturellen Probleme ist allerdings um einiges länger als vor 20 Jahren. Der Titel ‚Kranker Mann Europas‘ ist daher treffend.“ Das heißt: jetzt zutreffend – nicht damals.

5.

„Welche Faktoren sind spezifisch deutsch, welche eher europäisch, wo geht es um globale Entwicklungen?“

Naja, ich glaube, die von mir genannten historischen Punkte sind schon ziemlich spezifisch deutsche Bedingungen.

6.

„…da wird es unendlich komplex…“

Nein! Nicht bei dem „besonderen“ wirtschaftlichen Erfolg einer Nation, von dem ich hier spreche: Ein solcher signifikanter wirtschaftlicher Vorsprung eines ganzen Landes, wie er Deutschland zwischen 1955 und 2005 charakterisierte, hat meines Erachtens immer sehr klar benennbare Gründe.

Und die sind eben jetzt weg.

***

Noch ein weiterer kleiner Nachtrag:

Führt man die aktuellen Gravamina verschiedener deutscher Banken-Chefvolkswirte zu einer gemeinsamen Liste zusammen, dann finden sich auf dieser Liste zusätzlich zu den bereits erwähnten auch noch folgende Punkte:

  • zu viel Bürokratie
  • immer noch schwache Digitalisierung
  • hohe Energiepreise treffen eine stark auf energie-intensive Industrien konzentrierte Volkswirtschaft
  • Fachkräftemangel

Die ersten beiden Punkte, „zu viel Bürokratie“ und „immer noch schwache Digitalisierung“, haben sehr viel mit der maßgeblichen Rolle des „Mittelstands“ in der deutschen Wirtschaft zu tun. Aus dem Jahr 2019 habe ich dazu folgende Zahlen zur Hand: Rund 3,5 Millionen Firmen zählen zum Mittelstand, das sind etwa 99,5 Prozent aller Unternehmen in Deutschland; gut 17 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte arbeiten im Mittelstand, damit stellen mittelständische Unternehmen circa 58 Prozent aller Arbeitsplätze; ca. 82 Prozent aller Auszubildenden arbeiten im Mittelstand; 44 Prozent der kleinen und mittelständischen Unternehmen arbeiten direkt oder indirekt auch für den Export; dabei sind die deutschen Mittelständler „still berühmt“ dafür, dass sie auf lukrative Nischen spezialisiert sind und nicht selten in ihrer Branche zu den weltweit führenden Anbietern zählen. Aber gerade diese überschaubareren Betriebe tun sich mit Bürokratie und Digitalisierung eben oft schwerer als große Konzerne. Ein „denkerisches“ Problem gibt es an Bürokratie und Digitalisierung nicht, „es müssen halt Computer her und Verwaltungsakte weg“, fertig – es gilt nur eben die ganz praktischen strukturellen Schwierigkeiten der vielen kleineren Unternehmen in Deutschland dabei zu berücksichtigen.

Vergleichsweise interessanter ist für mich hier an dieser Stelle das Thema „Fachkräftemangel“, denn ich glaube, dass diese sogenannte „Bildungskrise“ sehr viel mit der von mir bereits besprochenen fortschreitenden „kulturellen Heterogenisierung“ der deutschen Gesellschaft zu tun hat: Die Qualifikationsanforderungen werden auch und gerade in technischen Lehrberufen immer höher – aber in einer sozialstrukturell verunsicherten Gesellschaft streben eben viele Menschen in ihrem natürlichen Bedürfnis nach „sozialem Status“ immer zunächst einmal nach dem höchsten ihnen erreichbaren formalen Bildungsabschluss, sprich dem Abitur und dem Hochschulstudium, denn in „unübersichtlicher gesellschaftlicher Lage“ wird gerade die in dieser Option implizierte berufliche Nicht-Festlegung beziehungsweise hinausgezögerte Festlegung unterm Strich oft als Vorteil empfunden oder gemutmaßt, so ungefähr nach dem Motto: „Hat man erst mal das Akademiker-Ansehen, dann kann man immer noch weiterschauen, wovon man leben soll“. (Dass das Akademiker-Ansehen, weil es heute deutlich leichter zu bekommen ist als früher, deswegen auch eine im historischen Vergleich tatsächlich immer geringer werdende Rolle spielt, tritt dabei subjektiv zunächst in den Hintergrund.)

Schließlich hat meine Mutter (Jahrgang 1936) noch einen wichtigen Punkt zu meinem vorliegenden Beitrag ergänzt. Sie schrieb mir: „Auch die Gleichberechtigung verändert die Gesellschaft in nicht gedachter Weise: Nur ein Beispiel: Wenn überwiegend Frauen in Akademiker-Berufen, die mit Menschen umgehen (Ärzte, Lehrer etc.) tätig sind, die zugleich Beruf, Kinder, work-life-balance anstreben, wird die Gesellschaft nicht mehr funktionieren wie bisher: Die Lehrerin/Ärztin will ihre Kinder betreuen lassen – von Frauen, die nach dem gleichen Schema leben möchten?? Wie können Wochenend-Unternehmungen aussehen, wenn alle Angestellten nur mehr vier Tage arbeiten – sicher nicht bevorzugt am Wochenende?“ Das stimmt. Auch darin liegt ein wichtiger soziokultureller Destabilisierungsfaktor unserer Gesellschaft, an den noch bis 1970 so gut wie niemand dachte. Ich unterstelle, dass die Meisten von uns, auch die meisten Männer, die Gleichberechtigung wollen – aber wir wissen tatsächlich konzeptionell gar nicht, wie wir dabei wirtschaftlich eigentlich künftig ohne die jahrtausendealte häusliche Ausbeutung von Frauen auskommen sollen.

Und diese historisch-herkömmliche Ausbeutung von Frauen führt dann eigentlich unmittelbar weiter zu der maximal kritischen Frage, ob nicht der ganze wirtschaftliche Erfolg des „Westens“ seit dem späten zwanzigsten Jahrhundert im Grunde sehr wesentlich genau wie schon in der mediterranen Antike auf „fremden Sklaven“ beruht – nur dass diese Sklaven eben heute im Unterschied zu damals ein bisschen bezahlt werden? Aber an diesem Punkt höre ich lieber auf, bevor ich polemisch werde. Falls es so sein sollte, wird der nächste Sklavenaufstand schon kommen – vielleicht auch nur als Sklavenausstand.

Ja, die Liste der strukturellen Probleme unserer Wirtschaft ist derzeit wirklich lang.

Pferdestärken

CSU-Generalsekretär Huber, 18.9.23: „Keine Partei hat so viel PS unter der Haube und keine Partei bringt auch so viel PS auf die Straße.“ Diese aufgedönste Wortwahl vergleicht für mein Verständnis CSU-Anhänger implizit mit Pferden. Scheint keinen zu stören. Aber Achtung, Tiere klagen nicht gegen Diskriminierung – für sie sind Pferde, Esel und Hammel alle gleich. Passt das so? Dem Sinn der CSU für Konsequenz(en) kann man derzeit wirklich nur alles Beste wünschen.

Was hat diese Beobachtung mit Spiritualität zu tun? Ohne eine einigermaßen dominante kollektive spirituelle Kultur – die in meinem Land derzeit unter dem Ausfall der Kirchen leidet, aber künftig auf ganz andere als auf die bisherige kirchliche Weise gewährleistet werden muss – fehlt der Politik der Druck zu verantwortlicher Sprache; eine gesellschaftliche Schwäche der verantwortlichen Sprache wird aber längerfristig immer auch verantwortungslose Handlungsweisen begünstigen.

Man mag diesen Zusammenhang für „schlicht moralisch“ und für „bloß durch (formelle) Religion beeinflussbar“ halten; in diesem Fall hätten Impulse zu einer „freieren“ Spiritualität tatsächlich wenig Wirkung im hier beschriebenen Sinne. Aber das glaube ich nicht.

Was sind „subpolitische“ Äußerungen?

Ich bezeichne meinen hier vorliegenden Blog als „subpolitisch“. Was heißt das?

Ich persönlich kann mir überhaupt keine anderen sinnvollen Blogbeiträge vorstellen als solche, die „irgendwie“ politisch (also „politisch im weitesten Sinne“) relevant sind.

Der Grund, weshalb ich in den letzten Jahren hier in diesem Blog nichts beziehungsweise sehr wenig geschrieben habe, liegt darin, dass mir stark bewusst geworden ist, dass Stellungnahmen nicht als „spirituell“ wahrgenommen werden, wenn sie als „politisch“ wahrgenommen werden; denn im Bewusstsein der meisten Menschen, deren Spiritualität noch grob geschätzt in der ersten Hälfte ihrer Entwicklung unterwegs ist (und das sind die Allermeisten, und für sie ist dieser Blog ja auch geschrieben) gehen die Begriffe „spirituell“ und „politisch“ offenkundig nicht oder jedenfalls nicht gut zusammen.

Es geht mir als Verfasser dieses Blogs aber darum, dass alles, was man hier lesen kann, als Mitteilungen über Spiritualität wahrgenommen wird – und zwar nicht zu dem Zweck, dass ich als Verfasser dieser Texte ein bestimmtes „Image“ pflegen oder eine bestimmte „Rolle“ einnehmen kann, sondern damit echte Spiritualität „propagiert“ wird und medial auch als solche „ankommt“.

Wenn ich nun zugleich sage: „Ein Blog ist für mich aber ein genuin politisches Medium; unpolitische Blogs verfehlen für mich ihren Daseinssinn (denn Unpolitisches sollte man grundsätzlich besser in ganz anderer Form äußern)“, dann entsteht natürlich ein Dilemma:

Wie kann ich als spiritueller Blog-Schreiber hinreichend politisch und angemessen nicht-politisch zugleich sein?

Ich löse dieses Dilemma durch den Begriff „subpolitisch“. Bei diesem Begriff geht es darum, sich konsequent mit den „tragenden tieferen Schichten“ des Politischen zu befassen, sich jeglicher parteilicher oder gar polemischer Kommentare zur bloßen tagespolitischen „Oberfläche“ aber bewusst zu enthalten.

Mal sehen, ob mir das gelingt.

Ende Mai 2022: Ein entsetzter Blick von Xinjian über den Donbass nach Uvalde

Zu den „Xinjian Police Files“ gibt es nichts anzumerken. Sie sprechen für sich.

Auch zum Krieg in der Ukraine ist längst alles Nötige gesagt.

Die USA erweisen sich dieser Tage einmal mehr als defekte Demokratie. Längst besteht dort eine ausreichende (wenn auch nicht überwältigende) „natürliche Mehrheit“ für ein schärferes Waffenrecht, kommt aber aus strukturellen Gründen nicht zur politischen Geltung. Funktionierende Demokratie sieht entschieden anders aus.

Zur Causa Uvalde bleibt darüberhinaus allerdings noch etwas zu sagen über eine spezifische entsetzliche Trägheit defekter demokratischer Politik: Gibt es „technisch“ strukturprinzipiell, von der Handlungsidee her, „leicht“ abstellbar erscheinende Gründe, so wird immer reflexartig ausschließlich auf diese letzteren fokussiert. Im Falle Amoklauf: Waffen-Liberalismus wird als die alleinige Ursache des Problems dargestellt. Dabei sind in Wirklichkeit noch viele weitere Probleme beteiligt, wenn in einem Land statistisch jeden Tag ein Mensch versucht, einen Massenmord an seinen Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu verüben: Elementar-kulturelle, ja geradezu „zivilisatorische“ Probleme mit Gerechtigkeit, Chancengleichheit und Sinnstiftung durch „Pursuit of Happiness“, egal wie groß das betreffende Land sich diese Grundsätze und Ziele auf seine Fahnen schreiben mag. Sozialpolitische Defizite bei der öffentlichen Vorhaltung niederschwelliger sozialarbeiterischer Angebote und frühzeitiger Krisen-Interventionspotenziale. Bildungspolitisches Versagen. Gesundheitspolitisches Scheitern beim allgemeinen Verfügbar-Machen von Psychotherapie. Und nicht zuletzt ein Versagen der institutionellen Religionen beim konsequenten Vermitteln des fundamentalen spirituellen Gebots der Gewaltlosigkeit. Für die Lösung der letztgenannten gesellschaftlichen Probleme praktische Handlungskonzepte zu formulieren, ist freilich schwieriger, als einfach nur zu fordern, Besitz und Tragen von Schusswaffen müsse eingeschränkt werden (wobei ich, nota bene, nicht in Zweifel ziehe, dass letztere Forderung ebenfalls richtig und geboten ist). Aber solange Probleme nicht zutreffend benannt werden, ist mit Sicherheit kein wirklich effektiver Schritt in Richtung ihrer Lösung möglich. Denn die politische Zielsetzung kann ja nicht ernsthaft lauten: „zwanzig Prozent weniger Amokläufe“ – mehr Verbesserung der gesellschaftlichen Lage wird allerdings mittels bloßen Drehens an der Waffengesetzgebung allein sicherlich kategorisch nicht drin sein, wie ich meine.

Um zum Blick aufs große Ganze zurückzukehren: Man sieht heute China, Russland und die USA auf sehr unterschiedliche Weise als Staaten versagen, aber man sieht sie eben allesamt dramatisch versagen und in keinster Weise irgendein Vorbild für andere Staaten liefern. Ein hinreichend geeintes Europa (einstweilen leider ganz klar ohne Russland) wird zukünftig weltpolitisch ganz und gar auf eigenen Füßen stehen müssen. Es kann fürderhin keine Anlehnung an irgendeine sogenannte „Großmacht“ mehr suchen, wie es das seit 1945 zu tun pflegte. Was eine solche weltpolitische Selbständigkeit im erschöpfenden Detail bedeutet, soll hier nicht Thema sein. Entscheidend ist zunächst einmal vernehmlich festzustellen, dass dieser Schritt pragmatisch notwendig ist.

Revoltierbar

„Nach Meinung des Salzburger Dogmatikers Hans-Joachim Sander wird der Synodale Weg nicht erfolgreich sein. Doch gerade sein Scheitern sei bedeutsam, ‚denn dann wird die Absurdität der Nicht-Reformierbarkeit der Kirche umso deutlicher‘, sagte Sander am Montagabend bei einer Akademieveranstaltung zum Thema ‚Macht und Verantwortung‘ in Würzburg. Er glaube jedoch, dass der katholische Glaube revoltiert werden könne, so der Dogmatiker.“ („katholisch.de“, 24.5.2022)

Genau. So isses. Danke, HJS. Wieder mal.

Für Ukraine

„Der König von Aram führte Krieg mit Israel. Er verabredete mit seinen Untergebenen: An dem und dem Ort soll mein Lager sein. Aber der Gottesmann ließ dem König von Israel sagen: Hüte dich, an jener Stelle vorbeizugehen; denn die Aramäer kommen dort herab. Der König von Israel schickte nun Späher an die Stelle, die ihm der Gottesmann genannt und vor der er ihn gewarnt hatte, und nahm sich dort in Acht. Als das nicht nur einmal oder zweimal geschah, wurde der König von Aram beunruhigt. Er rief seine Untergebenen und fragte sie: Könnt ihr mir nicht angeben, wer von den Unsrigen zum König von Israel hält? Da sagte einer von seinen Leuten: Niemand, mein Herr und König, sondern Elischa, der Prophet in Israel, verrät dem König von Israel, was du in deinem Schlafzimmer sprichst. Da befahl er: Geht und erkundet, wo er sich aufhält, damit ich ihn festnehmen lasse. Man meldete ihm: Er ist in Dotan. Er schickte also Pferde und Wagen und eine starke Truppe dorthin. Sie erreichten die Stadt in der Nacht und umstellten sie. Als der Diener des Gottesmannes am nächsten Morgen aufstand und hinaustrat, hatte die Truppe die Stadt mit Pferden und Wagen umstellt. Da sagte der Diener zu seinem Herrn: Wehe, mein Herr, was sollen wir tun? Doch dieser sagte: Fürchte dich nicht! Bei uns sind mehr als bei ihnen. Dann betete Elischa: HERR, öffne ihm die Augen, damit er sieht! Und der HERR öffnete dem Diener die Augen: Er sah den Berg rings um Elischa voll von feurigen Pferden und Wagen. Als dann die Aramäer zu ihm herabstiegen, betete Elischa zum HERRN und rief: Schlag doch diese Leute mit Verblendung! Und der HERR schlug sie auf das Wort Elischas hin mit Verblendung. Daraufhin sagte Elischa zu ihnen: Das ist nicht der richtige Weg und nicht die richtige Stadt. Folgt mir! Ich werde euch zu dem Mann führen, den ihr sucht. Er führte sie aber nach Samaria. Als sie dort angekommen waren, betete Elischa: HERR, öffne ihnen die Augen, damit sie sehen! Der HERR öffnete ihnen die Augen und sie sahen, dass sie mitten in Samaria waren. Sobald nun der König von Israel sie erblickte, rief er Elischa zu: Soll ich sie totschlagen, mein Vater? Doch dieser erwiderte: Töte sie nicht! Erschlägst du denn jene, die du mit deinem Schwert und Bogen gefangen nimmst? Setz ihnen Brot und Wasser vor, damit sie essen und trinken und dann zu ihrem Herrn zurückkehren! Der König gab ihnen reichlich zu essen und zu trinken und entließ sie zu ihrem Herrn. Seitdem kamen keine aramäischen Streifscharen mehr in das Land Israel.“ (2Könige 6,8-23)

Zwischenruf zum „Missbrauch des Missbrauchs“

Kein Zweifel: Römisch-katholische Bischöfe und Kardinäle müssen jetzt auf das ernsthafteste Buße tun dafür, dass sie ein Dreivierteljahrhundert lang „endemischen“ sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker in ihrer Kirche systematisch vertuscht haben, um das Ansehen der „heiligen“ Institution zu schützen. „Missbrauch des Missbrauchs“ ist zwar ein hässliches und infames, seinerseits „reaktionär“ missbrauchtes Schlagwort, das wahrlich nicht die richtigen Absichten im Schilde führt – wahr ist allerdings folgendes: Diejenigen, die in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um den größten Kirchenskandal aller Zeiten die (bisweilen, wie üblich, etwas selbstgerecht wirkende) Anklägerposition einnehmen, sollten jetzt lieber ebenfalls gerade einmal sehr gründlich persönliche Gewissenserforschung betreiben, ob sie nämlich nicht einen großen Teil ihrer angeblichen völligen Überraschung darüber, dass Bischöfe dem Schutz des Images der von ihnen repräsentierten Institution stets Priorität eingeräumt haben, doch nur aus taktischen Gründen heucheln. Diese bischöfliche Haltung war „notorisch“; das Wort „notorisch“ bedeutet aber wörtlich zunächst und vor allem, dass der Sachverhalt „bekannt“ war. Und das war er in der Tat. Meine eigenen Eindrücke von der katholischen Kirche reichen heute vierzig Jahre zurück. Ich kann mit Sicherheit sagen, dass genau jenes bischöfliche Vorgehen, das heute so sehr in der Kritik steht, noch in den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren bei allen mehr oder weniger theoretischen Diskussionen über das Problem priesterlichen Fehlverhaltens (jeglicher Art) in mindestens „stillschweigendem“ Konsens von „allen“ Seiten als „notgedrungen richtig“ akzeptiert wurde.

Klar, denn: Keine Institution, die sich wesentlich auf „Ideale“ gründet, entkommt dem Dilemma, im Interesse ihrer elementaren Selbstbehauptung immer vor allem ihren medial-öffentlichen „guten Ruf“ verteidigen zu müssen. Wir sollten deshalb jetzt, ohne deswegen die römisch-katholische Kirche aus ihrer besonderen Verantwortung zu entlassen oder diese zu relativieren, zunehmend auch eine Diskussion darüber führen, dass das Grundproblem hinter dem aktuellen mega-krisenhaften Kirchenskandal aus einer sehr prinzipiellen Ursache heraus sämtliche Religionen und Weltanschauungen betrifft, und dass wir letztlich, wenn wir es beheben und beseitigen wollen, in einem sehr fundamentalen Sinne endlich eine un-dogmatischere, un-ideologischere (und das bedeutet aus meiner Sicht logisch zwingend: „echter spirituelle“) Welt werden müssen.

Mein Beitrag zu einem E-Mail-Adventskalender: Ochs und Esel an der Krippe

Ochs und Esel stehen nirgendwo im Evangelium.

Aber sie hätten drin sein können.

Denn sie sind keineswegs bloß ein mehr oder weniger beliebiges Bild für oberflächliche Gemütlichkeit. Sie sind vielmehr genau so entstanden, wie ein großer Teil aller Geschichten im Evangelium entstanden ist: als hintersinnig abgewandelte Zitate aus der älteren Bibel. Definitiv ist die ganze Weihnachtsgeschichte des Lukas auf diese Weise entstanden. Im Adventskalender vom letzten Jahr habe ich das bereits hinsichtlich der Hirten aufgezeigt. Dieses biblische Muster hat viele Facetten; vielleicht gehe ich im nächsten Jahr noch auf weitere davon ein. Aber in diesem Advent soll es mir um Ochs und Esel gehen – und die passen tatsächlich ebenfalls genau in das erwähnte biblische „Herstellungsmuster“.

Viele wissenschaftliche Bibelforscher meinen heute, dass die Texte des Neuen Testaments noch relativ lange Gelegenheit hatten, die eine oder andere Veränderung zu erfahren, nämlich noch mindestens bis ungefähr um das Jahr 200 unserer Zeitrechnung herum. Nur ungefähr 150 Jahre später taucht in der bildenden Kunst dann bereits die früheste uns bekannte Darstellung von Ochs und Esel an der Krippe Jesu auf, nämlich auf einem Sarkophag in der Basilika Sankt Ambrosius in Mailand. Angesichts dieses relativ kurzen zeitlichen Abstands muss man wohl sagen: Ochs und Esel hätten tatsächlich durchaus noch hinein gelangen können ins Weihnachtsevangelium.

Die durchaus zahlreichen Stellen in der älteren Bibel, auf welche der Ochs und der Esel der alten Weihnachtstradition sich höchst sinnvoll beziehen oder beziehen können, konzentrieren sich auf die Kapitel 21 bis 23 des Buches Exodus. Diese Kapitel bilden das sogenannte „Bundesbuch“, die mutmaßlich älteste Fassung des Gesetzes Israels. Unmittelbar davor, in Kapitel Exodus 20, sind Ochs und Esel bereits in die Zehn Gebote eingegangen, die als eine später entstandene, dem Bundesbuch dann vorangestellte Zusammenfassung besonders wichtiger und grundlegender Vorschriften zu verstehen sind. In Exodus 20,17 werden Ochs und Esel bekanntlich unter den Besitztümern des Nachbarn aufgezählt, die man nicht begehren darf. An der Krippe Jesu könnte dieser Bezug vielleicht heißen, dass dieses Kind alle unsere Bedürfnisse stillt.

„Wenn jemand einen Brunnen offen lässt oder einen Brunnen gräbt, ohne ihn abzudecken, und es fällt ein Rind oder ein Esel hinein, dann soll der Eigentümer des Brunnens Ersatz leisten.“ (Exodus 21,33) Vielleicht wurde das auf die Erlösungsfunktion Jesu bezogen: Die Menschheit ist wie das in den Brunnen gefallen Tier, und Jesus ist der Ersatz, den Gott dafür leistet. Direkt anschließend geht es im Bundesbuch allerdings darum, dass ein Dieb Ersatz leisten muss: „Findet man das Gestohlene, sei es Rind, Esel oder Schaf, noch lebend in seinem Besitz, dann soll er doppelten Ersatz leisten.“ (Exodus 22,3) Und dann folgt noch zweimal eine analoge Auflistung anlässlich des Themas Veruntreuung. Damit würde die obige Interpretation Gott also irgendwie zu sehr in die Nähe eines Diebs oder Betrügers rücken. Ich weiß nicht, ob trotzdem irgendwann einmal so interpretiert wurde – dass also die Weihnachtskrippe mit Exodus 21,33 in Verbindung gebracht wurde -, denn die Theologie früherer Zeiten kann ja manchmal heute durchaus seltsam anmuten; ich überlasse es also meinen geschätzten Leserinnen und Lesern, sich selbst einen Reim auf diese Deutungsmöglichkeit zu machen.

Eine etwas andere Bedeutung von Ochs und Esel findet sich dann in Exodus 23,4: „Wenn du dem verirrten Rind oder dem Esel deines Feindes begegnest, sollst du ihm das Tier zurückbringen.“ Dieser Bezug eignet sich natürlich schön für das Friedens-, Vergebungs- und Versöhnungsmotiv der Weihnachtsszene.

Exodus 23,12 schließlich schärft das Sabbat-Gebot ein: „Sechs Tage kannst du deine Arbeit verrichten, am siebten Tag aber sollst du ruhen, damit dein Rind und dein Esel ausruhen und der Sohn deiner Sklavin und der Fremde zu Atem kommen.“ Jesus als der Bringer des Welt-Sabbat, welcher von nun an in gewissem Sinne für immer andauern wird, und der somit die Verurteilung Adams aufhebt, zu dem einst so düster gesagt worden war: „Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen, bis du zum Erdboden zurückkehrst; denn von ihm bist du genommen, Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück“ (Genesis 3,19), was natürlich zugleich auch das Motiv der Hoffnung auf das Ewige Leben in diese ultimative Sabbat-Vorstellung einbezieht – das ergibt zweifellos eine Menge tiefen theologischen und spirituellen Sinn im Stall zu Bethlehem.

Der erste der offenbar drei Verfasser des Jesajabuches gehört zweifellos zu den älteren Autoren unserer Bibel; trotzdem ist das Bundesbuch vermutlich ein noch älterer Text als der des „Ersten Jesaja“ und inspirierte diesen, als er schrieb: „Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht.“ (Jesaja 1,3) Leider muss es aus historisch-kritischer Sicht als sehr wahrscheinlich bezeichnet werden, dass es gerade dieses polemische Jesaja-Zitat war, das tatsächlich am meisten zur Entstehung und zum „Erfolg“ der traditionellen Weihnachtsszene mit Ochs und Esel beigetragen hat – eine Bezugnahme, die irgendwann im Laufe der Zeit zweifellos auch eine regelrecht antisemitische Bedeutung annahm.

Aber das geschichtlich Gewesene verdammt uns eben nicht dazu, immer weiter auf Irrtümer aufbauen zu müssen, die einst begangen wurden. Das wäre ein falsches Verständnis von „Tradition“. Die Zäsur, die Jesus in die Menschheitsgeschichte gebracht hat, bedeutet nach meinem Verständnis gerade eine höchst lebendige Flexibilität in der Art und Weise, auf die wir das Verhältnis zwischen Vergangenem und Zukünftigem immer wieder ganz neu bestimmen können.

Konkret heißt das in diesem Fall: Wir können uns das traditionelle Bild von Ochs und Esel an der Krippe Jesu bewahren, sogar auf eine vertiefte Weise, und wir können uns zugleich aus dem Reichtum der biblischen Bezüge dieses Bildes heraus eine sinnvollere Deutung dieses Bildes formen als jene, die in der Geschichte der Kirche insgesamt möglicherweise vorgeherrscht haben mag.

Dies ist meines Erachtens die Art und Weise, auf die wir überhaupt und generell mit der Tradition der Kirche umgehen sollten.

Ich wünsche Euch allen eine schöne Adventszeit und ein frohes Weihnachtsfest.

…Und dazu noch eine kleine Prämie von 6 Millionen bei „gutem Benehmen“

Ich blogge ja eher selten über Fußball. Aber.

Wie aktuell bekannt wird, erhält Neymar bei Paris Saint-Germain laut Vertrag ein pekuniäres Sahnehäubchen von jährlich 6 Millionen extra, wenn er „sich den Fans gegenüber ethisch verhält und politische oder religiöse Propaganda unterlässt“.

Eine solche Fußball-Meldung ist sogar für mich interessant.

Sie fällt natürlich in das ergiebige Thema: „Was dürfen privatrechtliche Verträge festlegen, wenn allgemeinere gesetzliche Normen es nicht regeln?“.

Es gibt eben Menschen, deren Berufstätigkeit zwar nicht de jure, wohl aber de facto mit einer hohen und breiten gesellschaftsöffentlichen Wirksamkeit einhergeht. Dass diese Menschen, zu denen bekanntlich insbesondere Spitzensportler und andere Unterhaltungskünstler zählen, in Ausnutzung ihrer medialen Präsenz auf regelmäßiger Basis eine gesamtkulturelle und politische weltanschauliche Meinungsbildungsfunktion erfüllen, sieht man ja schon daran, wie häufig sie in kommerzieller Produktwerbung für Erzeugnisse aus Branchen in Erscheinung treten, die mit ihrer eigenen Haupttätigkeit (in diesem Fall Kicken) strenggenommen nicht das Geringste zu tun haben. Dort, in der Werbung, wird also eine universalisierte, unspezifische Öffentlichkeitsfunktion solcher Personen bereits seit langem systematisch instrumentalisiert. Man kann also nicht abstreiten, dass betreffenden Persönlichkeiten eine sehr stark verallgemeinerte öffentliche Bedeutung zukommt. Damit erhalten ideelle Klauseln in Verträgen wie etwa zwischen Fußballstars und ihren Vereinen unvermeidlich eine eminent politische Konnotation. Diese wird freilich von allen Beteiligten systematisch abgestritten, um eine sich ausweitende Verantwortung zu umgehen.

Infolgedessen treffen Fußballbosse politisch weitreichende Entscheidungen, ohne einer entsprechenden politischen Kontrolle zu unterliegen.

Es sollte doch durchaus möglich sein, unabhängig von der amtsähnlichen Position oder Funktion eines Individuums einigermaßen objektive Kriterien für dessen faktische Wirkungsmächtigkeit im Sinne medialer Meinungsrepräsentanz zu formulieren, und für jegliche Fälle einer hochgradigen solchen Wirkungsmächtigkeit ganz generell erweiterte formale Verantwortlichkeitspflichten, paritätische Mitbestimmungsmechanismen und staatliche Beaufsichtigungskriterien im Hinblick auch auf privatrechtliche Arbeitsverhältnisse gesetzlich zu bestimmen, um bedenkliche Phänomene partikularistischer Eigenmächtigkeit und Willkür auszuschließen. Es ist wichtig, von demokratischen Repräsentanten einen entsprechenden politischen Willen gegenüber Fußballfunktionären, Medien-Entscheidern und sämtlichen ähnlichen gesellschaftlichen Top-Einflussnehmern nachdrücklich einzufordern.

Fußballfunktionäre sollten als solche definitiv in keiner Form über die Präsenz religiöser Bekundungen im öffentlichen Raum bestimmen, dazu fehlt ihnen entschieden jede Kompetenz.

Aus gegebenem Latzel

Seien wir ehrlich: Die im Evangelium bezeugte Religion lässt sich auf mehrere sehr verschiedene Weisen auslegen und auffassen. Und genau das ist ihr auch schon ihre ganze Geschichte hindurch widerfahren. Weltanschauliche Konflikte zwischen Christen rühren von einer idealistischen Erwartung an einen breiten und festen inner-christlichen Konsens her, die sich nicht erfüllt und nicht erfüllen kann. Solche Konflikte haben inzwischen endgültig die Ebene der konfessionellen Einteilung des Christentums hinter sich gelassen und beginnen, dessen einzelne Konfessionen weiter zu segmentieren. Die römisch-katholische Kirche arbeitet sich an ihrem „Synodalen Weg“ ab; die evangelische Welt in Deutschland nagt derzeit schwer an den Auseinandersetzungen um Pastor Latzel.

Zu letzterer Causa gibt es für mich übrigens nur ganz am Rande anzumerken, dass ein gerichtlich bestelltes Gutachten zur Biblizität von Homophobie anno domini 2021 auch ganz unabhängig von der superschrägen konkreten Auswahl der Person des Gutachters schon eine derartige anachronistische erkenntnistheoretische Absurdität darstellt, dass mir dazu nur noch der karnevaleske Geistesblitz kommt, Ursache unserer geistigen Misere möchte womöglich das Fehlen eines Exzellenzclusters „Forensische Theologie“ an unseren Universitäten sein. Genug davon, zurück zu ergiebigeren Themen:

Selbst der Hinweis, dass in all solchen konfessionsinternen Auseinandersetzungen unterschiedliche theologische Standpunkte ein unterschiedliches geistiges und geistliches Niveau aufweisen, ist nur sehr bedingt hilfreich und nur sehr bedingt relevant – entscheidend ist vielmehr, wie eine bestimmte Auffassung des Evangeliums jeweils mit einer komplexen gesellschaftlichen Situation interagiert. Und auch das war schon immer so.

Es nützt nichts, zu behaupten, dass man das Evangelium unmöglich so auslegen könne, wie es der jeweilige theologische „Intim-Gegner“ tut. Das Evangelium ist kein systematisch-theologisches Werk und erlaubt daher tatsächlich viele systematische Interpretationen. Über harte Qualitätskriterien solchen Interpretierens bestand nie und besteht de facto nirgendwo hinreichende vernunftgemäße Einigkeit. Es liegt tatsächlich an der Beschaffenheit des autoritativen biblischen Textes selbst, dass manche regelrecht totalitären Auswüchse biblischer Exegese, wie sie insbesondere in Zeiten schwerer gesellschaftlicher Verunsicherungen und Umbrüche grassieren, leider nicht zwingend mittels Hinweisen auf eine allgemein anerkannte Geschäftsordnung zur Argumentationsmethode ausgeschlossen werden können; insbesondere deshalb nicht, weil es in der mittlerweile langen und vielfältigen Kirchengeschichte historisch oft schon Präzedenzfälle für diese bedenklichen Auslegungen gibt, deren eingehende Erörterung man nicht einfach pauschal abweisen und delegitimieren kann, wobei die Komplexität einer angemessenen Diskussion dieser Fälle freilich letztendlich immer nur den populistischen Simplifikateuren in die Hände spielt, weil nur wenige akademische Fachleute sämtlichen Details einer mustergültigen Begutachtung historischer Umstände wirklich urteilskompetent folgen können, während bei Otto Normalchrist am Ende wohl nichts weiter übrig bleibt als der Eindruck: „Man sieht es ja, so geht’s doch auch – und wenn dieser oder jener nette oder mit missionarischem Wumms begabte Pastor das vertritt, und es hört sich schön griffig und eingängig an, dann schließe auch ich mich dieser Meinung gerne an.“ Da ist dann am Ende „fast alles möglich“.

Für mich ist diese teilgesellschaftliche Situationsanalyse nur ein weiteres Indiz dafür, dass wir auch im Christentum verstärkt „spirituelle Lehrer“ brauchen. Es sind eben nicht akademisch objektivierbare Argumentationen, die uns Christen theologische Wahrheitssicherheit geben. Wahrheit ist und bleibt, salopp gesagt, ein etwas akrobatisches „Nasengeschäft“. Die bisherige theologische Tradition des Christentums pocht auf den Bibelvers: „Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer, Christus.“ (Mt 23,10) Aber eine strikte und starre Auslegung dieser Vorgabe stößt spätestens dann an problematische Grenzen, wenn, wie in der Gegenwart, verstärkt theologische Extremisten ein Äquivalent der dadurch im Innenraum der religiösen Bewegung notorisch vakanten Autoritätsrolle okkupieren, gerade indem sie die angebliche Nicht-Interpretationsbedürftigkeit des geschriebenen göttlichen Wortes für ihre jeweilige sinistre Selbstbestätigung instrumentalisieren: Da es aufgrund des „Guru-Verbots“ von Mt 23,10 im Christentum keine eigentlichen „Religionslehrer für (juristisch) Erwachsene“ gibt und angeblich auch nicht geben soll, ziehen diese Frömmigkeits-Populisten mit ihren markigen Parolen überall dort, wo auch das traditionelle Alternativ-Modell „Bischof“ nicht länger charismatisch zu überzeugen vermag (und wo tut es das noch?), im theologisch legitimitätsfreien Graubereich eine sich rein auf den quantitativen Zulauf an nichtredaktionell-massenmedialer Anhängerschaft gründende substitutive „christliche“ Richtlinienkompetenz an sich – mit mehr als gefährlichen Konsequenzen. Gegen die von dieser Entwicklung ausgehende ernste gesellschaftliche Bedrohung wird meines Erachtens nichts anderes helfen, als die im christlichen Bereich etablierten Konzepte für spirituelle Lehrerrollen fundamental neu zu überdenken.

Why do „intelligent“ people in the year 2021 believe in conspiracy ideologies?

I could write a voluminous tractate about this question, but I only want to make some brief inspiring suggestions:

(1) Of course there is the influential role of „social media“ in the early internet age with their non-redactional news channels, often enough untouched by any concern about ethics of journalism, and with their filter-bubbles which via mere quantitative affirmation make it appear like „THE TRUTH“ if you cheaply find what you seek. Important as this connection is, I’d like to direct your attention towards some less talked-about, but equally worth-pondering-about possibilities for explaining the current pandemic of conspiracy ideologies:

(2) People want to be part of a group. In order to contribute to the identity of the person as a member of the group, the identity of the group must be defined by a clear inside and a clear outside. This has become a major problem in the age of diversity. Today, everyone feels almost like „a super-small fringe group of his own“. As objectively validable reality today doesn’t show mercy with persons in need of large clear homogenous group identities concerning any reliable grand ideas anymore, such ideas in the 21st century can only be found off-road the paths of rational and empirical evidence. The 50 years between 1918 and 1968 were the „great“ epoch of ideologies that claimed to be rationally comprehensible; since the breakdown of Soviet Communism in the late 1980s, soon followed by equal disillusion about unbridled capitalism, the whole principle of „strictly reasonable“ (which means hypothetically falsifiable, „non-post-factual“) ideologies has come to an end, leaving behind a painful mental vacuum.

(3) There are a number of „western“ post-modern cultural features, among them certain trends of pedagogy predominant since about 1970, which undoubtedly have contributed to a significant increase of narcissism in western societies. Among the core roots of feelings of narcissistic abasement are uncertain social identity, low-profile (or low-quality) enemy images and not-superior own knowledge. Conspiracy ideologies perfectly serve against all three issues.

(4) An important part of the cultural change since about 1970 is particularly the subsiding of the traditional reverence towards elder people. It is no longer generally accepted that older people are wiser than younger people. However, for psychologists it’s an empirical fact that older people are less inclined to believe conspiracy ideologies than are younger persons. So the societal effect of older people’s influence retaining younger people from believing in conspiracy ideologies has significantly lessened.

(5) In the traditional-religious age, propensity towards conspiracy ideologies has normally been canalized into apocalypticism. Our age is actually still religious, but certainly no longer traditionally religious, compared to all pre-20th-century history. Today, apocalypticism is clearly no major societal option anymore. Conspiracy ideology seems to have superseded apocalypticism especially as a strategy for coping with social trauma: As the fellow human being who is unsettlingly experienced as a personally offensive evildoer can no longer convincingly be interpreted as the devil or as a demon, his conspiracy-ideological interpretation as „an agent of THEM“ becomes the replacement „psycho-valve“ instead.

(6) Inherent to conspiracy ideologies is a certain self-enhancing dynamic; because for many people, the first thing they expect to really be there is not conspiracies, but conspiracy ideologies; in other words, especially in times of crisis, they expect conspiracy lies to be distributed. Ironically or tragically, that expectation contributes to shaking ALL truths, regardless of their quality; because human reason is initially confident that it will be able to check strange assertions out, but by way of experience, especially in chaotic times of crisis, makes the disconcerting discovery that this is by no means often enough satisfyingly possible. So, precisely the initial critical expectation of something untrue can have the paradoxical effect of driving the person into profound confusion about truth.

(7) The core code of all conspiracy ideologies is: „Something just isn’t right.“ empirical psychologists have shown this by demonstrating that persons with a tendency to believe in conspiracy ideologies typically are inclined to equally believe contradicting assumptions, for example, that a famous person has been murdered, or that the same person has faked his or her death. This can only mean that the „feeling“ of „some“ conspiracy is usually more important than the actual exact content of this or that conspiracy ideology. However, times of major crisis always naturally are times in which „something just isn’t right“. Conspiracy believers make the main mistake to easily believe in everything their mind tells them about the allegedly distinctive objective causes of their vague gloomy feelings. You don’t need to be stupid in order to make that mistake; on the contrary, this mistake is particularly likely in persons with a high „technical“ (but merely „technical“) intelligence of the mind, as empirical psychological studies have shown.

But this feeling that „something just isn’t right“ has precisely one particularly prominent average reason: loneliness. The correlation between social isolation and propensity towards conspiracy ideologies is a solid result of latest psychological and sociological empirical research. Out of the diffuse but burdensome feeling that „something just isn’t right“, the answer to the question „What’s wrong?“ is looked for in thought products, while it actually lies in the „simple“ unease of loneliness: As loneliness generally triggers brooding thinking, the loners frequently miss to put their question into its actually „right“ form: „What’s wrong WITH ME?“, and instead, falling victims to their blind spot, begin to obsessively inquire about what’s wrong with the world around them.

Diversity: new solutions, new problems

Finnish scholar Joanna Töyräänvuori has convincingly demonstrated that Leviticus 18,22, a passage that is commonly, not to say „notoriously“, used to underpin the Bible’s alleged verdict against homosexuality, actually reads: „You shall not lie with a male in the bed of a woman“, which means that it prohibits two men from having sex with the same woman, and does not refer to homosexual acts.

That insight is very supportive to the development of a due novel anti-homophobic Christian theology. With Töyräänvuori’s reading for several philological and cultural-historical reasons inevitably having to push through, gay people are rightly „acquitted by the Bible“, as the Bible is not interested in any hypothetical problem about homosexuality.

Which, however, is not to be misunderstood as a „glorification of the biblical world“: Rather, I’m afraid it would have been so mandatory to hide homosexuality in Ancient Israel that there was no societal problem with it for the simple reason that it was publicly invisible anyway. But to me this sad suspicion is not even the biggest downside of Töyräänvuori’s discovery yet, alas.

The interpretation that a woman should not have two male sexual partners – „within a narrow time frame“, one may add – all the more clearly points to a deep-rooted racist motivation behind Leviticus’ „sanctity legislation“: „The Israelite race shall be kept pure.“ Some of this connection is explained by typical Iron-Age assumptions about the dynamics of biology, as Töyräänvuori shows. It’s all about getting „racially proper offspring“. Homosexuality is an irrelevant topic in that context – whereas dehumanizing condescension regarding supposed ethnic inferiority of every societal-cultural, especially religious and political „collective otherness“ is the comparatively far more virulent issue, looked at from a reproductive angle that is inevitably „identitarian“ in the Torah.

So, what in following the Töyräänvuori reading we „purchase“ instead by „bartering away“ gay suffering is a significantly increased issue with blunt ancient racism in the Bible. But the latter is the far more honest theological fight to take up.

Jesus from Nazareth took up precisely that latter fight, and he did so pointedly as a Jew who never believed to become un-Jewish by doing so – and as a man in whom homophobic aversions are simply unimaginable.

Zum Rücktrittsgesuch von Kardinal Marx

Reinhard Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, hat mit Datum vom 21. Mai 2021 einen Brief an Papst Franziskus geschrieben, worin er diesen bittet, seinen Amtsverzicht anzunehmen. Es war der Papst, der diesen persönlichen und vertraulichen Brief später zur Veröffentlichung freigegeben hat, die nun erfolgt ist (ohne das Schreiben bislang zu beantworten). Der Inhalt des Briefes, den ich hier kommentieren möchte, lautet wie folgt:

„Ohne Zweifel geht die Kirche in Deutschland durch krisenhafte Zeiten. Natürlich gibt es dafür – auch über Deutschland hinaus weltweit – viele Gründe, die ich hier nicht im Einzelnen ausführen muss. Aber die Krise ist auch verursacht durch unser eigenes Versagen, durch unsere Schuld. Das wird mir immer klarer im Blick auf die katholische Kirche insgesamt, nicht nur heute, sondern auch in den vergangenen Jahrzehnten. Wir sind – so mein Eindruck – an einem gewissen ‚toten Punkt‘, der aber auch, das ist meine österliche Hoffnung, zu einem ‚Wendepunkt‘ werden kann. Der ‚österliche Glaube‘ gilt doch auch für uns Bischöfe in unserer Hirtensorge: Wer sein Leben gewinnen will, wird es verlieren; wer es verliert, wird es gewinnen! Seit dem letzten Jahr denke ich intensiver darüber nach, was das auch für mich persönlich bedeutet und bin – durch die Osterzeit ermutigt – zu dem Entschluss gekommen, Sie zu bitten, meinen Verzicht auf das Amt des Erzbischofs von München und Freising anzunehmen. Im Kern geht es für mich darum, Mitverantwortung zu tragen für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche in den vergangenen Jahrzehnten.“

Respekt. Großer Respekt. In meinem Umfeld gibt es viele, die Kardinal Marx in erster Linie für einen gewieften Kommunikationsstrategen halten. Ich habe mich immer gefragt, ob es nicht ein verheerender Fehlschluss ist, aus der Tatsache, dass jemand großes Geschick im Umgang mit den Medien beweist, bewusst oder unbewusst grundsätzlich zu folgern, die Äußerungen der betreffenden Person seien nicht aufrichtig. Diese zu wenig differenzierenden pauschalen Kritiker werden jetzt vermutlich wähnen, es handele sich bei Marx’ Brief um einen taktischen Schachzug: Er wisse wohl schon, dass ihm die Veröffentlichung eines Gutachtens zum Missbrauch in der Kirche, die für das Erzbistum München und Freising noch in diesem Sommer erfolgen soll, neue ganz persönliche Schwierigkeiten bescheren werde; da er betont, dass er nicht amtsmüde ist, sei zu erwarten, dass Papst Franziskus sein Rücktrittsgesuch ablehnen werde; somit würde er dann klugerweise bereits mit einer gewichtigen päpstlichen Bestätigung in die Herausforderungen dieses Sommers gehen können. Solchen maliziösen Spekulationen kann ich mich nach der Lektüre des Briefes und dem Anhören der Pressekonferenz anlässlich seiner Veröffentlichung nicht anschließen.

Unabhängig davon verdient der Umstand unbefangen meditiert zu werden, wie spezifisch hier „Mitverantwortung für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche“ als Grund angegeben wird. Dies ergibt nämlich nur Sinn, wenn der Missbrauch „strukturell“ ist. Dies ist er in der Tat in mindestens zwei Hinsichten – in der einen davon zweifellos und in der anderen sehr wahrscheinlich: Zweifellos strukturell ist er hinsichtlich der systematischen Vertuschung von Taten mittels Deckung von Tätern seitens sehr vieler Bischöfe zum Zweck der Wahrung des Ansehens der Kirche; sehr wahrscheinlich strukturell ist er hinsichtlich der besonderen und statistisch erhöhten Attraktivität der katholischen Priesterrolle als einer auf mystifikationsanfällige Weise mit vorgeschriebener zölibatärer Lebensform verbundenen Berufsrolle für Personen mit gestörter psychosexueller Entwicklung. Wenn das Problem tief strukturell ist, müsste ein Amtsträger, der mit dem oben zitierten, von Kardinal Marx formulierten Satz argumentiert, aber streng genommen und salopp gesagt deshalb zurücktreten, „weil die katholische Kirche so ist, wie sie ist“, mit anderen Worten, das Problem berührt dann Grundlagen der Kirche, die Marx gar nicht verantworten kann; in diesem Fall könnte er konsequenterweise nicht bloß als Diözesanbischof zurücktreten, sondern er müsste dann auch sein Priesteramt niederlegen, sich laisieren lassen und sogar aus der römisch-katholischen Kirche austreten. Eine „Katastrophe“ kann niemand „verantworten“, dieser Sprachgebrauch ergibt nicht wirklich Sinn; verantwortlich sein kann ein Mensch auch in einer sehr hohen Position immer nur für unter seiner Aufsicht geschehene Fehler, die im günstigen Fall „nur“ zu einem „Skandal“ führen und im ungünstigen Fall zu einem „Super-GAU“.

„Die Untersuchungen und Gutachten der letzten zehn Jahre zeigen für mich durchgängig, dass es viel persönliches Versagen und administrative Fehler gab, aber eben auch institutionelles oder ‚systemisches‘ Versagen. Die Diskussionen der letzten Zeit haben gezeigt, dass manche in der Kirche gerade dieses Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben wollen und deshalb jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüberstehen. Ich sehe das dezidiert anders. Beides muss im Blick bleiben: persönlich zu verantwortende Fehler und das institutionelle Versagen, das zu Veränderungen und zur Reform der Kirche herausfordert.“

Abgesehen davon, dass mir nicht klar ist, wie hier der Ausdruck „administrative Fehler“ definiert sein will (wurden Berichte über sexuellen Missbrauch etwa versehentlich in den falschen Aktenordnern abgeheftet?), stellt dieser Satz gewiss das Deutlichkeits-Maximum dar an Kritisieren einer gewissen Fraktion unter seinen bischöflichen Amtsbrüdern, das von einem echten Diplomaten erwartet werden kann.

„Ein Wendepunkt aus dieser Krise kann aus meiner Sicht nur ein ‚synodaler Weg‘ sein, ein Weg, der wirklich die ‚Unterscheidung der Geister‘ ermöglicht, wie Sie es ja immer wieder betonen und in Ihrem Brief an die Kirche in Deutschland unterstrichen haben.“

Wenn ein „synodaler Weg“ die „Unterscheidung der Geister“ ermöglichen soll, dann klingt das für mich persönlich, mit Verlaub, nach einer Idealisierung von Demokratie seitens einer traditions-institutionellen Binnen-Mentalität, die die hochkomplexen und „gemischten“ Erfahrungen der Gesamtgesellschaft mit Demokratie in den letzten anderthalb Jahrhunderten weitgehend verpasst und nicht zur Kenntnis genommen hat. Außerdem ist diese Assoziation auch tief theologisch inkonsistent: Die „Unterscheidung der Geister“ ist nach Paulus eine Gnadengabe; Gnadengaben werden 1Kor 12,10 zufolge dezidiert Individuen verliehen, nicht Kollektiven.

„Ich bin seit zweiundvierzig Jahren Priester und fast fünfundzwanzig Jahre Bischof, davon zwanzig Jahre Ordinarius eines jeweils großen Bistums. Und ich empfinde schmerzhaft, wie sehr das Ansehen der Bischöfe in der kirchlichen und in der säkularen Wahrnehmung gesunken, ja möglicherweise an einem Tiefpunkt angekommen ist. Um Verantwortung zu übernehmen reicht es aus meiner Sicht deshalb nicht aus, erst und nur dann zu reagieren, wenn einzelnen Verantwortlichen aus den Akten Fehler und Versäumnisse nachgewiesen werden, sondern deutlich zu machen, dass wir als Bischöfe auch für die Institution Kirche als Ganze stehen.“

Strukturell taucht mit der Bemerkung über das ramponierte Image der Bischöfe wieder anflughaft die leidige Fixierung bischöflicher Stellungnahmen auf das öffentliche Ansehen der Kirche auf – wenn auch in einer verglichen mit anderen Bischöfen nur sehr milden, weil persönlich gehaltenen Form -, mithin ansatzweise genau das, was Marx selbst in einem sehr bald darauffolgenden Satz seines Briefes kritisiert. Darin deutet sich ein gewisses Dilemma an. Denn es ist ja letztlich doch erst die Betroffenheit über einen bereits eingetretenen großen Schaden, der Marx zu seinem Rücktritt bewegt – und dieser Schaden ist im Grunde eben doch ein Schaden, der für die Kirche als Institution entstanden ist. Das kann streng logisch betrachtet allerdings auch gar nicht anders sein: Der Schaden, der den Missbrauchs-Opfern entstanden ist, ist kategorisch immer ein individueller Fall, der sich nie angemessen mit anderen Fällen vergleichen lässt. Aus der Opferperspektive existieren also überhaupt nur Einzelfälle; Einzelfälle als solche ergeben aber, egal wie viele es sind, per Definition keine aggregierbare Argumentationsgrundlage. Wegen eines einzelnen Missbrauchsfalles wäre Kardinal Marx nicht zurückgetreten – und das hätte auch niemand von ihm erwartet. Eine „Masse“ miteinander vergleichbarer Vorfälle stellt sich also grundsätzlich überhaupt immer erst und nur aus der systemischen Perspektive dar – der es im vorliegenden Zusammenhang wiederum kategorisch um nichts anderes als um die Daseinsberechtigung von Institutionen gehen kann. Das „Leid der Opfer“ gibt es tatsächlich immer nur als das „Leid des Opfers im Singular“ – und es kann als solches den Rücktritt eines Institutionsverantwortlichen streng logisch gesehen gar nicht schlüssig begründen. Andernfalls stünde tatsächlich die amtsinhabende Daseinsberechtigung jeglicher höherer Amtsträger tagtäglich gravierend in Frage, weil unter ihrer Verantwortung ständig überall die verschiedensten Arten von Unregelmäßigkeiten vorkommen, deren Gewichtung sich nicht auf eine schematische, geschweige denn zwingende Weise moralisch einorden lässt. In dieser Erkenntnis offenbart sich ein gewisser grundlegender logischer Circulus vitiosus des kirchlichen Umgangs mit der Missbrauchskrise, an dem Reinhard Marx nicht schuld ist. Aus Institutionssicht kann der Verantwortliche noch so schuld sein – wenn er trotzdem die richtige Person ist und bleibt, um den Schaden einzudämmen und ihn, soweit möglich, zu beheben und zu kompensieren, dann soll er im Amt bleiben und die Leitung der Korrektur, Reparatur und Wiedergutmachung übernehmen. Aus dieser Perspektive betrachtet erkennt man besonders deutlich, dass ein „Rücktritt aus Betroffenheit über die Leiden der Opfer“ logisch im Grunde nicht schlüssig ist. Wirklich logisch kommt überhaupt nur ein Rücktritt aus Verantwortung für das Versagen der Institution in Betracht – und es ist ganz folgerichtig, wenn solches Versagen am sich verschlechternden öffentlichen Image der Institution gemessen wird. Ich kann nicht beurteilen, ob Reinhard Marx als Erzbischof von München und Freising durch geeignetere Nachfolger abgelöst werden könnte; ich kann nur darauf hinweisen, dass es paradox ist, wenn diese Frage im vorliegenden Ereigniszusammenhang überhaupt nicht thematisiert wird.

„Es geht auch nicht an, einfach die Missstände weitgehend mit der Vergangenheit und den Amtsträgern der damaligen Zeit zu verbinden und so zu ‚begraben‘.“

Das wäre wohlfeil und pietätlos, denn die Toten können sich nicht wehren, und ihnen etwas in die Schuhe zu schieben, ist eine der leichtesten Übungen unter den gängigen Qualifikationsbeweisen jeglicher Form von Macht. Dieser Satz sollte eigentlich überflüssig sein. Dass er es mit Blick auf das Verhalten mancher Bischofskollegen von Marx nicht ist, liefert noch einmal eine ganz eigene Bestätigung der Krise.

„Ich empfinde jedenfalls meine persönliche Schuld und Mitverantwortung auch durch Schweigen, Versäumnisse und zu starke Konzentration auf das Ansehen der Institution.“

Falls Kardinal Marx mit diesem Satz für eventuelle ihm persönlich unbequeme Ergebnisse der Missbrauchsstudie des Erzbistums München und Freising vorbaut, die bald erscheinen wird, ist ihm dies ohne Problematisierung zuzugestehen und nicht als Zeichen von taktiererischer Unlauterkeit seiner Motive auszulegen.

„Erst nach 2002 und dann verstärkt seit 2010 sind die Betroffenen sexuellen Missbrauchs konsequenter ins Blickfeld gerückt, und dieser Perspektivwechsel ist noch nicht am Ziel. Das Übersehen und Missachten der Opfer ist sicher unsere größte Schuld in der Vergangenheit gewesen. Nach der von der Deutschen Bischofskonferenz beauftragten MHG-Studie habe ich in München im Dom gesagt, dass wir versagt haben. Aber wer ist dieses ‚Wir‘? Dazu gehöre ich doch auch. Und das bedeutet dann, dass ich auch persönliche Konsequenzen daraus ziehen muss. Das wird mir immer klarer. Ich glaube, eine Möglichkeit, diese Bereitschaft zur Verantwortung zum Ausdruck zu bringen, ist mein Amtsverzicht. So kann von mir vielleicht ein persönliches Zeichen gesetzt werden für neue Anfänge, für einen neuen Aufbruch der Kirche, nicht nur in Deutschland. Ich will zeigen, dass nicht das Amt im Vordergrund steht, sondern der Auftrag des Evangeliums. Auch das ist Teil der Hirtensorge. Ich bitte Sie deshalb sehr, diesen Verzicht anzunehmen. Ich bin weiterhin gerne Priester und Bischof dieser Kirche und werde mich weiter pastoral engagieren, wo immer Sie es für sinnvoll und gut erachten. Die nächsten Jahre meines Dienstes würde ich gerne verstärkt der Seelsorge widmen und mich einsetzen für eine geistliche Erneuerung der Kirche, wie Sie es ja auch unermüdlich anmahnen.“

Mit der Frage nach der „geistlichen Erneuerung“ sind wir meines Erachtens beim eigentlichen Angelpunkt (man könnte wortsinngemäß auch sagen Kardinalpunkt) der gesamten Auseinandersetzung um Missbrauch in der katholischen Kirche angekommen. Der Missbrauchsskandal ist in mehrerlei Hinsicht strukturell, er ist eine komplexe Folge der in der römisch-katholischen Kirche herrschenden Strukturen. Die geeignete Behandlung dagegen ist, im medizinischen Bild gesprochen, keine Wundnaht, sondern eine Herztransplantation. Ich glaube Kardinal Marx seinen Willen zur Veränderung. Aber das beantwortet noch nicht die Frage, wie diese Veränderung aussehen muss, um der Kirche tatsächlich eine lebendige Zukunft zu ermöglichen. Dabei ist meines Erachtens zunächst zu fragen, ob es um eine Erneuerung der Kirche oder um eine Erneuerung des Christentums geht. Aus traditioneller römisch-katholischer Sicht erübrigt sich diese Frage, da es aus dieser Sicht kein Christentum außerhalb der Kirche gibt – aber genau diese katholische traditionelle Sicht könnte sich mit der gegenwärtigen Krise erledigt haben beziehungsweise erledigen müssen.

In seiner Pressekonferenz anlässlich der öffentlichen Vorstellung seines Briefes an den Papst sagte Reinhard Marx den eindrücklichen Satz: „Ich glaube fest an eine neue Epoche des Christentums.“ Das ist der Punkt, an dem ich am zweifelsfreiesten einer Meinung mit ihm bin.

Die enge Bezugnahme aller gegenwärtigen kirchlichen Ereignisse auf die Missbrauchskrise aber, die trotz all ihrer unbestreitbaren und durch keinerlei Einwände zu mindernden Schrecklichkeit für mich entschieden eher symptomatisch als in sich selbst theologisch substantiell ist, lässt für mich bisher nicht erkennen, dass die Probleme der Kirche in jener Tiefe ihrer Wurzeln angepackt werden, an der allein sich ernstzunehmende Ansatzpunkte für eine durchschlagend zukunftsfähige echte geistliche Erneuerung des kirchlichen Christentums finden lassen können.

„Die Kirche“ beruht auf einer Tradition, innerhalb deren ein gewisser Bruch zwischen der Postmoderne und aller davorliegenden Kirchengeschichte wohl unvermeidlich geworden ist. Das traditionelle kirchliche Christentum kann heute letztlich nur noch „formal“ fortgeführt werden, aber nicht mehr in der Ungebrochenheit seines vormodernen Selbstverständnisses, das zwischen „formal“ und „tiefstinhaltlich“ noch nicht unterschied. Der herkömmliche Glaube an eine Wirksamkeit der Sakramente, der diese buchstäblich mit der Wirkung von Nahrungsaufnahme oder ärztlichen Eingriffen gleichsetzte, eine überaus konkrete Motivation zu moralischer Lebensführung aus surrealistischer Höllenangst, oder auch ein problemloses durchweg wörtliches Verständnis der Heiligen Schrift sind heute unwiederbringlich anachronistisch geworden. Früher bedeutete Tradition schlicht die Weitergabe von geoffenbarter absoluter Wahrheitseinsicht; heute kann sie schlechterdings nur noch die gleichsam im Sinne Kants „transzendental“ reflektierte Fortführung einer überlieferten religiösen Perspektiven- und Praxisentscheidung bedeuten. Jeder umfangreicher lautende Anspruch der Religion ist der grundlegendst gültigen Sphäre menschlicher Vernunft gegenüber unvertretbar geworden. Hinter diese Errungenschaft der Aufklärung führt kein Weg zurück. Man kann heute nur noch entweder mit dieser Anerkenntnis religiös sein oder unter vollständiger Aufgabe jeglicher Rechtfertigung der Religion gegenüber der elementarsten Vernunft. Damit aber kann „geistliche Erneuerung“ kategorisch keine Rückkehr zu Glaubensformen des 19. Jahrhunderts bedeuten. Für die katholische Auffassung vom Priestertum bedeutet dies, dass dessen traditionelle Interpretation als eine durch die Weihe eintretende „ontologische Wesensbesonderheit“ des Amtsträgers heute unausweichlich als eine unhaltbare Überhöhung erscheinen muss. Die Gregorianischen Reformen vor rund 950 Jahren, das Trienter Konzil vor rund 450 Jahren und das Erste Vatikanum vor rund 150 Jahren, am unmittelbaren Vorabend der Moderne, bezeichnen drei richtungsgleiche Schritte einer langfristigen geschichtlichen Entwicklung der essenziellen Kopplung des Katholizismus an sein Priesterbild. Von dieser Richtung abgehen zu müssen, erlaubt dem Katholizismus der Zukunft einfach kein bruchloses Verhältnis zu seinem eigenen Traditionsbegriff mehr. Mehr noch als irgendein lnhalt der Tradition muss in der katholischen Kirche heute der Traditionsbegriff modifiziert werden. Das meine ich mit dem Bild von Wundnaht und Herztransplantation.

Der Geist des Evangeliums hängt nicht am katholischen Priesterbegriff. Ganz im Gegenteil, „Priester“ kommen im Evangelium überhaupt nur als tendenzieller Negativbegriff vor. Angesichts dessen dürften meine Unsicherheiten hinsichtlich dessen, was Kardinal Marx mit „geistlicher Erneuerung“ meint, verständlich sein.

Das ändert aber nichts daran, dass meine seit Jahren stetig gewachsene besondere (also über das jedem Mitmenschen gebührende und zukommende Maß hinausgehende) Achtung der Person Reinhard Marx und meine Sympathie für ihn sich Anfang Juni 2021 noch einmal verstärkt hat.

Was Constantine a serious Christian?

There are more than obvious political reasons why Constantine (272-337) would have turned to favoring the Christians, shortly after his predecessor Diocletian had still gorily persecuted them for the last time (303 CE).

The waves of persecutions of Christians in the Roman Empire had been very different in character. Under Nero in the 60ies CE, there was a Jewish sub-group in the city of Rome that displayed too little horror about the great city fire, because these people were acquainted with a positive interpretation of such scenery by their apocalyptic traditions, thus making themselves unpopular and suspicious almost without any further implications.

After 70 CE, increasingly there was kind of a tacit agreement between „the two new and future forms of Judaism”, saying that Rabbinical Judaism would claim to connect breachlessly to older Judaism (which isn’t totally true), while Christianity accepted to be something completely new (which isn’t totally true either). Jews had been an allowed religion in the Roman Empire before, but as religion in antiquity always was a deeply political issue, of course the Romans were not willing to split that license. Consequently, from about 90 CE onwards, there were persecutions of Christianity as an illicit religion. But these persecutions were sporadic. Trajan told governor Pliny in a famous letter: Don’t listen to anonymous accusations, put the non-denying ones among the accused to a test concerning their loyalty towards the Roman state by having them bring some little pagan sacrifice, and if they refuse to, then have them executed for their resistance against the state.

Under Marcus Aurelius in the 160ies and 170ies CE, it turned out to be not enough to persecute the illicit religion on a mere occasional basis, as the Christians now had more and more intellectuals showing up publicly and harshly attacking the allowed Jews. From that time on, it was the ideological conflict that started to be perceived more strongly, focusing especially on the Christians’ typical „un-Roman” tendencies of privatizing, inclusivity across all borders of class and gender, and exclusivity towards other religions. But as times soon turned more and more disastrous due to pandemic („Antonine Plague”) as well as intensifying border defense warfare at the Danube marking the earliest beginnings of the Migrations of Peoples, systematic altercation with Christians was cut short and turned into punctiform outbreaks of scapegoat-searching popular anger.

The establishment of the church progressed nevertheless. In the early 250ies CE emperor Decius launched the first state-run, empire-wide persecution of Christians in order to get rid of that „new“ religion before it would finally be to late to prevail against its dynamic development. Already Decius’ motive was the unifying ideological strengthening of Roman society in order to overcome the empire’s deep crisis during that century.

The Roman Empire had always very much been based on religion. After the deep crisis of the third century CE, Diocletian again wanted to renovate the empire on the basis of a cultural ultra-conservatism. But meanwhile the consolidation of the church had gone on for another half of a century. Since 360 CE, there had been the „Little Peace of the Church“, and Christianity had been flourishing in the Empire. In Nicomedia, a huge church was just under construction on a hill overlooking Diocletian’s palace when the emperor ordered his surprise persecution to unleash. This was no longer a move against some clandestine group. And it was basically already a fairly desperate, unrealistic and bizarre attempt in 303 CE. Diocletian pursued an express concept of pagan restoration, and the Christians could not be but opposed to that idea. By persecuting the Christians, Diocletian himself tragically tore his own political Opus Magnum apart instead of furthering it. After the persecution, the world had seen that this was no possible solution, as the church since long was too strong already to get rid of it that way. Which means, „Constantine’s“ church did by no means „suddenly emerge out of nowhere“.

The Roman state was actually pretty weak in terms of structure, and not just temporarily so, but by principle, by virtue of its concept. It was largely limited to military affairs and collecting taxes. Whereas the church already since the middle second century CE had begun to develop a very strong and elaborate internal structure, serving needs of authority, legitimation and control, information, communication and education, administration, joint finance and charity. Only a very stupid politician could have missed to see this institution as a marvelous potential tool of power.

Was Constantine’s favor towards the church nothing but a perfectly logical, almost compelling political move? Was he himself a lifelong pagan?

In order to counter the view that Constantine was a serious Christian, what has been referred to is that he didn’t get baptized earlier than on his deathbed, and that he ruthlessly murdered some of his family members. But these clues are no clues.

Family murder was late antiquity’s common „reason of state“, and many Christian rulers of that time still did it even after their baptism – see, for example, Clovis (c. 466-513).

Not only was baptism on the deathbed convenient to such rulers, as it safely forgave all sins, which secured them a pole position on the way to heaven, but also there was the doctrine in Early Church that sins committed after baptism could not be forgiven anymore. Therefore, it was quite common during that epoch, not only for rulers, to receive baptism late in life. In addition to that consideration, there was the further one that severe worldly penances would have been imposed on the sinner who was a member of the church – which many deemed to be unfitting with the honor of a princeps.

The emperor whose predominant goal was to reunite and re-stabilize the empire clearly would have been eagerly careful to do so by being the emperor of all members of mega-diverse imperial-Roman society. In his particular historical situation, Constantine could serve that goal best by being an emperor who was openly in favor of the Christians, but not (yet) a formal member of the church. At a private dinner with bishops around the time of the Council of Nicaea, the emperor famously called himself the „bishop of those outside the church“ (Eusebius of Caesarea, Vita Constantini 4,24), which may be regarded a proof to the aforesaid assumption.

Consequently, we simply have no hint that Constantine was not a serious Christian just because he was a serious politician.

Apocalypse and Fire. Why Christians didn’t Lay Fire to the City of Rome

The Great Fire of Rome in Juli 64 CE arose from the merchant shops around the Circus Maximus, where flammable goods had been stored. It went on for about ten days and destroyed about two thirds of the huge city.

„Neither through human effort nor through lavish gifts of the Princeps (Nero) nor through atonement offerings to the gods was the defamation made give way that the fire happened on command. Consequently, to get rid of this rumor, Nero fastened the culprits and inflicted the most exquisite tortures on a class which was hated for their aberrations and which the populace called Chrestiani. (…) …Which were sentenced not so much because of the crime of having laid fire to the city, rather because of their hatred against humankind.“ (Tacitus, „Annals“, 15,44; translation: mine. – Tacitus himself had been about seven years old at the time of the great fire.)

Some scholars opine that there were two types of Christian apocalyptics: The first kind expected God alone to effect the end of the world, while the second sort believed that this end had to be brought about by human action too. Consequently, these scholars think it is possible that Christian apocalyptics of the second type did in fact lay fire to the city. To me that assumption seems highly unlikely.

Ancient cities heavily burned, and actually completely burned down, statistically every thirty or forty years. The imagery of first century CE’s numerous Jewish apocalypses derives from precisely that eyewitnesses’ experience. „Fire falling from heaven“ is inspired by fire falling from the roofs, because the roofs burned „best“ and first. All light and heat that did not come directly from the sun came from some sort of open fire. The city of Rome at that time had a population of about half a million (Prof. Glenn R. Storey). The mere idea of something like fireguards was just about to be invented, let alone the idea of fire-proof building and urban-planning rules. From such conditions easily by accident a catastrophic scenery could arise that was by no means far-fetched to be associated with the end of the world.

In much-troubled first century CE, everybody vividly awaited the end of the world and was looking for signs of it everywhere all the time. This quest for heavenly signs was normally quite superstitious. But followers of the biblical religion, although they waited for signs just like everybody else, were very proud of not being superstitious like the pagans. Thus, for them it was particularly clear that when you are looking for signs, you are reasonably careful not to manufacture them yourself as misleading artifacts.

The Christians were different from a majority of Roman-Empire folks only in as far as firstly they regarded the end of the world not just as a possibility, but were sure about its imminence, and secondly judged it as something positive. Therefore, in 64-CE Rome, what happened may very well have been the following: By their apocalyptic tradition, Christians certainly were quite used to the idea that a great city fire was indeed a divine sign – but they were not particularly sad nor upset about it like all the others around them, because for them this sign meant that the Messiah was coming (back) whom they knew already as a radically good and lovely one. That „crazy“ attitude amidst all the flames, and may it have expressed however subtle and in mere baffling calm serenity, was unfavorably noticed by their horrified fellow citizens – and therefore decisively contributed to the suspicion against them which held them responsible for the disaster.

Otherwise it would be highly unlikely that already in the year 64 CE it was possible for any Non-Jew in the big city of Rome to differentiate a Christian from a Jew.

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