Historiker, das war das primäre Wesen meiner akademischen Ausbildung.
Der gesellschaftlich-ökonomische „Erfolg“ Deutschlands zwischen ungefähr 1955 und ungefähr 2005 war auf eine Kombination aus hauptsächlich sieben unterscheidbaren Aspekten der Zeitbedingungen zurückzuführen, die heute allesamt historisch obsolet sind.
Erstens: Die Alliierten des Zweiten Weltkriegs kümmerten sich nach dem Krieg sehr gut um Deutschland, weil sie es aus geostrategischen Gründen dringend brauchten, denn der „kalte Krieg“ zwischen ihnen bahnte sich nach 1945 sehr rasch an, worin Deutschland wichtigstes Frontgebiet war.
Zweitens: Die sehr weitgehende Zerstörung Deutschlands im Zweiten Weltkrieg ermöglichte einen flächendeckenden Wiederaufbau auf der Grundlage damals neuester technologischer Standards, deren Entwicklung genau während dieser Nachkriegszeit auch in allen Sparten enorme Fortschritte machte; der entsprechende beispiellose infrastrukturelle Innovationsschub verschaffte Deutschland von da an für mindestens dreißig Jahre einen erheblichen Vorsprung als Industriestandort.
Drittens: Deutschland profitierte nach 1945 durchaus immer noch von dem immensen Know-how, über das es noch aus jenen Zeiten her verfügte, in denen das Deutsche Reich (nämlich zwischen 1871 und etwa 1940) „das“ Weltzentrum naturwissenschaftlich-technologischer Forschung und Entwicklung gewesen war – so sehr, dass damals beispielsweise ambitionierte Physiker weltweit ganz selbstverständlich die deutsche Sprache erlernten.
Viertens: Die letztlich weltweiten enormen zivil-industriellen Entwicklungsfortschritte nach 1945, von denen Deutschland aus den eben schon genannten Gründen besonders profitierte, gestatteten es der sich damals neu konstituierenden deutschen Gesellschaft, ihren Begriff von materieller Gerechtigkeit auf ein äußerst simples, ja fast primitives Prinzip der Lebensunterhaltssicherung mittels Erwerbsarbeit nach „Fabrik-Paradigma“ zu gründen und mit dieser Vorstellung fast jedermann zunächst spontan zu überzeugen – welchen fundamentalen Veränderungen und Infragestellungen das Wesen von „Arbeit“ ab spätestens etwa 1980 unterliegen sollte, war 1949 noch nicht absehbar.
Fünftens: Die deutsche Gesellschaft war bis mindestens 1960 sehr weitgehend geeint in ihrer wenig erläuterungsbedürftigen simplen Abwendung von dem, was geschichtlich vorher gewesen war (Nazizeit und Krieg mit völliger Zerstörung des eigenen Landes – auch alle alten Nazis taten während jener Zeit konsequent so, als wären sie keine gewesen) und in ihrem Absorbiert-Sein vom Wiederaufbau, dessen fraglose Notwendigkeit zunächst wenig gesellschaftliche Zielkonflikte aufkommen ließ.
Sechstens: Im Rahmen des „Generationenvertrages“ als Grundlage der 1949 geschaffenen bundesrepublikanischen Sozialordnung hatte zunächst eine „Babyboomer“-Generation ihre durch den Krieg dezimierte Vätergeneration rentenversicherungstechnisch zu versorgen, was volkswirtschaftlich problemlos machbar war – später wurde die Sache rasch komplizierter.
Und siebtens: Die durch intensivierte industrielle Prozesse und wirtschaftsankurbelnden massenhaften Luxuskonsum verursachten Schäden an der natürlichen Umwelt wurden bis 1980 noch sehr weitgehend schlicht ignoriert, erst recht kam noch niemand auf den Gedanken, dass diese Schäden womöglich in einem komplexen globalen Zusammenhang zu sehen sein könnten – damit kommt schließlich auch noch ein einflussreicher Faktor von „Kulturwandel“ ins Spiel.
Deutschland ist heute für andere Länder international-politisch nicht mehr so wichtig, dass diese anderen Länder deswegen unbedingt bevorzugt hier bei uns investieren müssten.
Auf den technologischen Vorsprung unserer Infrastruktur waren wir in den 1950er-Jahren dermaßen stolz, dass wir seitdem versäumt haben, sie zu erneuern – sie ist inzwischen in allen Sparten heillos überaltert, und die jetzt notwendigen Investitionen übersteigen unsere jetzt vorhandenen Mittel bei weitem.
Überdurchschnittliche wirtschaftliche Erfolge eines Landes setzen ein überdurchschnittliches Innovationspotenzial in diesem Land voraus, es geht nicht anders. Der wirklich kreative Kern aller großen, einschneidenden Innovationen, auf denen unsere nationale Wirtschaftskraft bis heute beruht, stammt aber immer noch aus den 1960er-Jahren; seitdem ist auf der „innersten kreativen Ebene“ tatsächlich nur noch sehr wenig nachgekommen, der Fortschritt beschränkte sich im Grunde auf Weiterentwicklungen bereits vorhandener Prinzipien – was sich als wirtschaftliches Potenzial jedoch immer deutlicher erschöpft und „totläuft“. Hätten die Steinzeitmenschen unsere Einstellung besessen, dann hätten wir es inzwischen immerhin zu hyper-perfekten Steinwerkzeugen gebracht. Mit einem anderen Bild gesprochen: Wenn man eine Kette zu lang macht, dann wird sie zu schwer – irgendwann muss man eine Kette der bloßen Optimierungen wieder durch eine echt disruptive Innovation beenden. Eine solche ist in Wahrheit seit Jahrzehnten überfällig, mit zwei Ausnahmen: Genmanipulation und künstliche Intelligenz – ausgerechnet diese beiden Gebiete können einstweilen aber noch keine gesellschaftliche Wirksamkeit entfalten, weil sie zu umstritten sind, und die ethischen Klärungen, die sie erfordern, noch Jahrzehnte brauchen werden, ehe sie „in der Gesellschaft angekommen“ sind (im Hinblick auf Nuklearenergie dauert dieser Prozess beispielsweise bereits seit über vier Jahrzehnten an und ist noch längst nicht abgeschlossen). Eine überlegene wirtschaftliche Antriebskraft steckt in einer Innovation immer nur dann, wenn deren gesellschaftlicher Nutzen intuitiv-spontan unzweifelhaft ist – wie das beispielsweise im Fall der Großraumflieger von 1969 gegeben war. Die kreativen Wurzeln der Digitalisierung reichen übrigens ebenfalls bereits in dieselbe Zeit zurück; es wäre unkorrekt zu behaupten, diesbezüglich sei um die Jahrtausendwende herum etwas Grundlegendes passiert (wie es oberflächlich vielleicht scheinen mag), sondern die wirklichen Grundlagen der elektronischen Revolution waren zu diesem Zeitpunkt bereits dreißig bis vierzig Jahre alt. Echte besondere neue Schubkraft für die Wirtschaft könnte heute nur aus einem unbestreitbar nützlichen innovativen Durchbruch kommen, der um die Jahrtausendwende herum geschehen sein müsste – damals hat aber kein solcher Durchbruch stattgefunden, sondern wir waren stattdessen alle noch letztlich „linear“ mit den erweiterbaren Möglichkeiten der damals im Grunde bereits zwanzig Jahre alten Computer beschäftigt, auch wenn diese immer kleiner und immer leistungsstärker wurden. Anders, nämlich in Marketing-Sprache ausgedrückt: Wir haben innovationsmäßig in Wirklichkeit nichts mehr „in der Pipeline“.
Der feste „Arbeits“-Begriff der 1950er- und 1960er-Jahre hat sich „postmodern“ völlig aufgelöst und entfaltet keinerlei gesellschaftliche Integrationskraft mehr, im Gegenteil – wir haben unsere „Fair-Share“-Vorstellungen aber viel zu lange viel zu sehr auf ihn gestützt, so dass wir jetzt fatalerweise kein kollektiv akzeptiertes Alternativ-Paradigma finden.
Auch in sonstiger Hinsicht kann von einer „einigen“ Gesellschaft nach 2020 keine Rede mehr sein. Wer sich weltanschaulich nicht verständigen kann, kann aber auch nicht übermäßig produktiv miteinander arbeiten.
Wir sehen, dass der „Generationenvertrag“ aus simplen demografischen Gründen nicht mehr funktioniert, finden bislang aber noch kein gangbares Ausweichmodell – was ebenfalls wiederum eine Menge mit unserer bisherigen Fixierung auf herkömmlich verstandene „Arbeit“ zu tun hat; eine entsprechende Alternativ-Idee ist noch nicht einmal in Sicht, ganz zu schweigen von den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die es nach einem entsprechenden vernünftigen Vorschlag dann noch bräuchte, bis dieser einen allgemein akzeptierten Status erlangen könnte.
Zu allem Überfluss zieht die inzwischen völlig unleugbar gewordene globale ökologische Bedrohung durch den Klimawandel und andere menschengemachte Faktoren den gesamten Sinn sehr vieler etablierter bisheriger Möglichkeiten und Modelle ökonomischer Produktivität ganz fundamental in Zweifel und offenbart, dass viele Menschen der Welt besser dienen würden, wenn sie in unserem herkömmlichen Sinne von „Arbeit“ einfach überhaupt nichts mehr täten, anstatt schädliche Dinge zu produzieren, nur weil man diese immer noch marktwirtschaftlich verkaufen kann.
Es gehört zu den unvermeidbaren strukturellen Schwächen der Demokratie, dass sie Politiker unter den Zugzwang setzt, immerfort so tun zu müssen, als wüssten sie – und wüssten es besser als andere -, wie die sich stellenden Probleme zu lösen sind; die Wahrheit ist aber, für diese Probleme gibt es keine Lösung (philosophisch könnte man freilich so weit gehen zu sagen, dass es per Definition überhaupt keine „Lösung“ mehr gibt, sobald etwas wirklich ein „Problem“ ist, sondern jedem echten „Problem“ kann man überhaupt nur noch „entwachsen“).
Liebe Mit-Deutsche, woher soll denn angesichts dieser realistischen Betrachtung der Lage der materielle Überfluss und Luxus kommen, von dem viele von euch in den 2020er-Jahren immer noch träumen?
Ich kann euch nur dringend raten, euch andere, sinnvollere Lebensziele und Daseinszwecke zu suchen.
***
„NACH-TAROCK“, „ELFMETERSCHIESSEN“ ODER „EPIKRISE“ ZU DIESEM BEITRAG:
Ich habe meinen in industriellen Dingen erfahrensten Freund darum gebeten, diesen Beitrag zu beurteilen. Er hat das dankenswerterweise sehr gründlich getan. Er konfrontierte mich mit folgenden kritischen Rückmeldungen und Rückfragen:
1.
„Deine Aussagen, insbesondere zur Infrastruktur, wirken zu pauschal und benötigen Belege. Angesichts der Tragweite der Aussagen würde ich bei jeder eine Fußnote mit Literaturangaben erwarten. – Was die Mittel angeht: Gerade die Entwicklung nach dem Krieg zeigt doch, dass auch bei vollkommen zerstörter Infrastruktur noch was möglich ist.“
Okay, das mit den Belegen kann ich nachvollziehen. Ich habe Zweifel, ob Fußnoten dem Blog-Stil und seiner Leserlichkeit dienlich wären. Ich habe hier meines Erachtens nichts gesagt, was nicht solider Konsens aller seriösen Geschichtsdarstellungen wäre; ich ziehe hier lediglich Schlussfolgerungen daraus. Aber gewiss, es gibt im Internet schon genug „steile Thesen“ ohne Belege. Im folgenden will ich deshalb wenigstens ein paar historische Standardwerke angeben, an denen ich meine Behauptungen messen lassen möchte:
- Axel Schildt, „Die Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bis 1989/90“, 2007
- Dierk Hoffmann, „Nachkriegszeit. Deutschland 1945–1949“, in: Kontroversen um die Geschichte (Teilband), 2011
- Werner Abelshauser, „Deutsche Wirtschaftsgeschichte von 1945 bis in die Gegenwart“, 2. vollständig überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage, 2011
- Gerold Ambrosius, „Die Durchsetzung der sozialen Marktwirtschaft in Westdeutschland 1945–1949“, in: Studien zur Zeitgeschichte, Band 10, 1977
- John Lewis Gaddis, „Der Kalte Krieg. Eine neue Geschichte“, 2007
Bei Schildt findet sich folgende Information: Abgesehen vom Wohnraum, dessen Wiederherstellung noch länger dauerte, befand sich Deutschland erstaunlicherweise bereits Ende 1948 hinsichtlich Wohlstand und Modernität wieder auf Vorkriegsniveau – was, so würde ich annehmen, die bereits wiederhergestellte Infrastruktur zwingend impliziert. Drei Jahre nach Kriegsende – das überrascht, zeigt aber, dass es eben auch damals kein Wachstum ohne vorherigen infrastrukturellen Ausbau gab.
Christian Rusche, Senior Economist für Wettbewerb und Strukturwandel beim Institut der Deutschen Wirtschaft, benennt in einer Pressemitteilung des Instituts vom 28. Juni 2023 explizit die marode Infrastruktur in Deutschland als eines der wirtschaftlichen Kernprobleme des Landes.
2.
„Was ist mit unseren Exporten nach China?“
(Gut, er bezweifelt dann im Originaltext seiner Fragestellung gleich selbst, wie stabil China als wirtschaftlicher Partner langfristig wohl sein wird.)
Ich habe mal nachgesehen, was „wir“ nach China eigentlich exportieren: Laut „statista.com“ machten im Jahr 2022 knappe zwanzig Prozent des Werts aller deutschen Exporte nach China Personenkraftwagen (ohne Busse) aus, hinzu kamen weitere knapp zehn Prozent Kfz-Zubehör. Sind Autos wirklich die Branche, mit der wir uns für China so unentbehrlich zu machen hoffen? Der schon erwähnte Christian Rusche beispielsweise schreibt (a.a.O.): „Mit dem Wegfall des Verbrennungsmotors verliert die deutsche Wirtschaft ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal in ihrer Schlüsselindustrie.“ (Außerdem exportierte Deutschland 2022 nicht nur eine wesentlich größere Wertmenge in die USA, sondern sogar nach Frankreich und in die Niederlande jeweils noch etwas mehr als nach China, wie dasselbe Portal zeigt.)
3.
„Könnten Klimaresilienz und Bekämpfung des Klimawandels nicht selber auch zu wirtschaftlichen Wachstumsfeldern werden, auf denen Deutschland brillieren könnte?“
Das wäre eine schöne Perspektive. Die Beurteilung, inwieweit das möglich ist, und welches wirtschaftliche Potenzial sich daraus ergeben könnte, liegt außerhalb meiner fachlichen Kompetenzen. Für mich persönlich ist die Vorstellung allerdings reichlich ungewohnt und befremdlich, dass die bloße „Bekämpfung“ von etwas einen großen, aussichtsreichen und langfristigen „Markt“ darstellen sollte.
4.
„Die meisten von Dir angeführten Punkte waren schon gültig, als Deutschland als ‚kranker Mann Europas‘ galt – doch danach gab es ja nochmals einen ziemlichen Aufschwung, und es ging uns richtig gut… Warum?“
Naja, da hat uns einfach das sehr große und sehr nachhaltige Gesamt- Entwicklungspotenzial der Digitalisierung um die Jahrtausendwende herum noch einmal gerettet, würde ich sagen.
Außerdem war der „Sick Man of Europe“ (ein historisch übrigens viel älteres Label) damals weitgehend nur eine Effekthascherei des britischen „Economist“ („the sick man of the euro“, 1999), die hierzulande mit der ulkigen deutschen Neigung zu Selbstgeißelung emphatisch aufgegriffen und breitgetreten wurde. Im Vergleich zu heute gab es damals noch keinen echten Grund zum Jammern. Wir mussten die Wiedervereinigung finanzieren, und wir haben es gemacht. Ansonsten war die Lage nicht allzu dramatisch. Nicht wirklich.
Ich gebe hier Auszüge aus einem Kommentar von Carsten Brzeski, Chef-Volkswirt der ING Bank, in der Frankfurter Rundschau vom 25.8.2023 wieder, der diesen Sommer einige Aufmerksamkeit erregte:
„Die internationalen Medien überschlugen sich in den Sommerwochen mit einem Thema, das es vor zwanzig Jahren schon einmal gab: Deutschland, der kranke Mann Europas. Effekthascherei oder unangenehme Wahrheit? – Die Zahlen sind deutlich: Deutschland ist Wachstumsschlusslicht in Europa. Kurzfristiger Gegenwind in der Form von Zinserhöhungen, dem Stottern der chinesischen Wirtschaft und hoher Inflation trifft auf strukturelle Probleme, wie Rückstände bei Digitalisierung, Infrastruktur oder Bildung, aber natürlich auch den demographischen Wandel, der Energietransformation und der neuen Rolle Chinas in der Weltwirtschaft. Kein anderes Land wird aktuell mit so einer langen Liste von Problemen konfrontiert. – Vor mehr als zwanzig Jahren schockten angelsächsische Medien zum ersten Mal die deutsche Seele mit dem kranken Mann Europas. Zu wenig ‚New Economy‘, zu träge, mit einer zu teuren Währung in die Währungsunion eingetreten und damit zurecht Wachstumsschlusslicht in Europa. Nach einer Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens folgte eine Phase der Depression, in der in den Talkshows der Republik über den Fall des Landes lamentiert wurde. Es dauerte wiederum eine Weile, bis Gerhard Schröder die Agenda 2010 ankündigte und zusammen mit günstigen Entwicklungen in der Weltwirtschaft das Fundament für mehr als 15 Jahre solides Wirtschaftswachstum legte. Oder in den Worten der internationalen Medien: Wirtschaftswunder 2.0. – Allerdings ist es wie bei dem Cover eines alten Hits: Es gibt immer Unterschiede zwischen dem Original und der Neuauflage. Die Sonderkonjunktur durch EU-Osterweiterung und Chinas Aufholprozess wird es nicht mehr geben. Dafür gibt es zwei andere Unterschiede, die Hoffnung geben. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte Deutschland mehr als fünf Millionen Arbeitslose und übertrat die europäischen Haushaltsregeln. Arbeitslosigkeit ist aktuell nicht das Problem und die Staatsfinanzen gehören zu den stabilsten Europas. Die Liste der strukturellen Probleme ist allerdings um einiges länger als vor 20 Jahren. Der Titel ‚Kranker Mann Europas‘ ist daher treffend.“ Das heißt: jetzt zutreffend – nicht damals.
5.
„Welche Faktoren sind spezifisch deutsch, welche eher europäisch, wo geht es um globale Entwicklungen?“
Naja, ich glaube, die von mir genannten historischen Punkte sind schon ziemlich spezifisch deutsche Bedingungen.
6.
„…da wird es unendlich komplex…“
Nein! Nicht bei dem „besonderen“ wirtschaftlichen Erfolg einer Nation, von dem ich hier spreche: Ein solcher signifikanter wirtschaftlicher Vorsprung eines ganzen Landes, wie er Deutschland zwischen 1955 und 2005 charakterisierte, hat meines Erachtens immer sehr klar benennbare Gründe.
Und die sind eben jetzt weg.
***
Noch ein weiterer kleiner Nachtrag:
Führt man die aktuellen Gravamina verschiedener deutscher Banken-Chefvolkswirte zu einer gemeinsamen Liste zusammen, dann finden sich auf dieser Liste zusätzlich zu den bereits erwähnten auch noch folgende Punkte:
- zu viel Bürokratie
- immer noch schwache Digitalisierung
- hohe Energiepreise treffen eine stark auf energie-intensive Industrien konzentrierte Volkswirtschaft
- Fachkräftemangel
Die ersten beiden Punkte, „zu viel Bürokratie“ und „immer noch schwache Digitalisierung“, haben sehr viel mit der maßgeblichen Rolle des „Mittelstands“ in der deutschen Wirtschaft zu tun. Aus dem Jahr 2019 habe ich dazu folgende Zahlen zur Hand: Rund 3,5 Millionen Firmen zählen zum Mittelstand, das sind etwa 99,5 Prozent aller Unternehmen in Deutschland; gut 17 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte arbeiten im Mittelstand, damit stellen mittelständische Unternehmen circa 58 Prozent aller Arbeitsplätze; ca. 82 Prozent aller Auszubildenden arbeiten im Mittelstand; 44 Prozent der kleinen und mittelständischen Unternehmen arbeiten direkt oder indirekt auch für den Export; dabei sind die deutschen Mittelständler „still berühmt“ dafür, dass sie auf lukrative Nischen spezialisiert sind und nicht selten in ihrer Branche zu den weltweit führenden Anbietern zählen. Aber gerade diese überschaubareren Betriebe tun sich mit Bürokratie und Digitalisierung eben oft schwerer als große Konzerne. Ein „denkerisches“ Problem gibt es an Bürokratie und Digitalisierung nicht, „es müssen halt Computer her und Verwaltungsakte weg“, fertig – es gilt nur eben die ganz praktischen strukturellen Schwierigkeiten der vielen kleineren Unternehmen in Deutschland dabei zu berücksichtigen.
Vergleichsweise interessanter ist für mich hier an dieser Stelle das Thema „Fachkräftemangel“, denn ich glaube, dass diese sogenannte „Bildungskrise“ sehr viel mit der von mir bereits besprochenen fortschreitenden „kulturellen Heterogenisierung“ der deutschen Gesellschaft zu tun hat: Die Qualifikationsanforderungen werden auch und gerade in technischen Lehrberufen immer höher – aber in einer sozialstrukturell verunsicherten Gesellschaft streben eben viele Menschen in ihrem natürlichen Bedürfnis nach „sozialem Status“ immer zunächst einmal nach dem höchsten ihnen erreichbaren formalen Bildungsabschluss, sprich dem Abitur und dem Hochschulstudium, denn in „unübersichtlicher gesellschaftlicher Lage“ wird gerade die in dieser Option implizierte berufliche Nicht-Festlegung beziehungsweise hinausgezögerte Festlegung unterm Strich oft als Vorteil empfunden oder gemutmaßt, so ungefähr nach dem Motto: „Hat man erst mal das Akademiker-Ansehen, dann kann man immer noch weiterschauen, wovon man leben soll“. (Dass das Akademiker-Ansehen, weil es heute deutlich leichter zu bekommen ist als früher, deswegen auch eine im historischen Vergleich tatsächlich immer geringer werdende Rolle spielt, tritt dabei subjektiv zunächst in den Hintergrund.)
Schließlich hat meine Mutter (Jahrgang 1936) noch einen wichtigen Punkt zu meinem vorliegenden Beitrag ergänzt. Sie schrieb mir: „Auch die Gleichberechtigung verändert die Gesellschaft in nicht gedachter Weise: Nur ein Beispiel: Wenn überwiegend Frauen in Akademiker-Berufen, die mit Menschen umgehen (Ärzte, Lehrer etc.) tätig sind, die zugleich Beruf, Kinder, work-life-balance anstreben, wird die Gesellschaft nicht mehr funktionieren wie bisher: Die Lehrerin/Ärztin will ihre Kinder betreuen lassen – von Frauen, die nach dem gleichen Schema leben möchten?? Wie können Wochenend-Unternehmungen aussehen, wenn alle Angestellten nur mehr vier Tage arbeiten – sicher nicht bevorzugt am Wochenende?“ Das stimmt. Auch darin liegt ein wichtiger soziokultureller Destabilisierungsfaktor unserer Gesellschaft, an den noch bis 1970 so gut wie niemand dachte. Ich unterstelle, dass die Meisten von uns, auch die meisten Männer, die Gleichberechtigung wollen – aber wir wissen tatsächlich konzeptionell gar nicht, wie wir dabei wirtschaftlich eigentlich künftig ohne die jahrtausendealte häusliche Ausbeutung von Frauen auskommen sollen.
Und diese historisch-herkömmliche Ausbeutung von Frauen führt dann eigentlich unmittelbar weiter zu der maximal kritischen Frage, ob nicht der ganze wirtschaftliche Erfolg des „Westens“ seit dem späten zwanzigsten Jahrhundert im Grunde sehr wesentlich genau wie schon in der mediterranen Antike auf „fremden Sklaven“ beruht – nur dass diese Sklaven eben heute im Unterschied zu damals ein bisschen bezahlt werden? Aber an diesem Punkt höre ich lieber auf, bevor ich polemisch werde. Falls es so sein sollte, wird der nächste Sklavenaufstand schon kommen – vielleicht auch nur als Sklavenausstand.
Ja, die Liste der strukturellen Probleme unserer Wirtschaft ist derzeit wirklich lang.