Wenig Begeisterung über Leo XIV. in den MAGA-USA – na sowas

„Vance hatte in einem Interview über ein ‚christliches Konzept‘ referiert, ‚das besagt, dass man seine Familie liebt, dann seinen Nächsten, dann seine Gemeinschaft, dann seine Mitbürger, und danach erst den Rest der Welt‘. Prevost teilte daraufhin auf der Plattform X einen Meinungsbeitrag: ‚JD Vance liegt falsch: Jesus fordert uns nicht auf, unsere Liebe zu anderen zu bewerten‘, hieß es da.“

(Tagesschau online, 9. Mai 2025)

Nicht erst jetzt, wo aus dem US-Kardinal Prevost Papst Leo XIV. geworden ist, lohnt es sich, zu diesem Disput eingehender aufzuklären:

Worauf Vance sich offensichtlich bezogen hat, ist das im Bereich der christlichen Ethik verwendete Konzept der sogenannten „moralischen Vorzugsregeln“: In moralischen Konfliktsituationen gibt es eine zu befolgende klar feststellbare Rangfolge der zu beachtenden Würde, Güter und Werte. (siehe hierzu zum Beispiel: Bruno Schüller SJ, 1973)

Eine persönliche oder gesellschaftliche Lage sollte allerdings nicht mutwillig „inflationär“ als „moralische Konfliktsituation“ (über-)interpretiert werden.

Freilich: Eine „Inflations“-Tendenz vermeintlicher „dauernder moralischer Total-Dringlichkeit von allen Seiten“ lässt sich natürlich sehr „dankbar“ und „günstig“ politisch instrumentalisieren – genau eine solche „Moral-Stopfe“ (wie ich das nenne) scheint mir das zu sein, was Vance hier betreibt.

Für die alten Griechen war ein sehr wichtiges Grundprinzip ihrer philosophischen Ethik, dass moralische Konfliktsituationen Ausnahmen bleiben, die weit überwiegende Mehrheit aller alltäglichen „Reibungsmomente“ zwischenmenschlichen Zusammenlebens hingegen ethische „Neutra“ sind – „Adiaphora“ nannten sie das. „Adiaphoron“ bedeutet wörtlich: „etwas, das keinen Unterschied macht“, dem also moralisch wenig bis keine Bedeutung zukommt, ein Kontext, in dem es moralisch salopp gesagt schlicht „egal“ ist, für welche der in Betracht kommenden Verhaltensoptionen man sich entscheidet. Diese verschiedenen Optionen mögen vielleicht „netter“ sein oder „weniger nett“, aber „moralisch kritisch“ ist unsere Wahl zwischen ihnen nicht.

Für Populisten gibt es nichts, das „egal“ ist, oder, mit einem anderen Wort, nichts, das „liberal“ betrachtet werden darf. „Alles zu moralisieren“ ist ein typischer hetzerischer Grundmechanismus populistischer politischer Missbräuchlichkeit.

Der Jesus der Evangelien verkörpert allerdings geradezu das Gegenprogramm zu der Behauptung, „alles“ müsse „moralisch aufgeladen“ werden. Er spricht in erster Linie von einem menschlichen Alltag, in dem echte moralische Konflikte Ausnahmen sind – eine gesunde Realität.

Jeglichen „schematischen“ politischen Lösungen und stereotypen politischen Programmen, die aus einer solchen psychologisch künstlich erzeugten und geschürten permanenten geistigen Notlage-Empfindung heraus geradezu fanatisch „alles über einen Kamm scheren“, zeigt sich der Jesus der Evangelien dementsprechend ganz klar abhold. Zur bloßen „Gelegentlichkeit“ des Auftretens echter moralischer Probleme gehört inhärent auch, dass sie stets „kasuistisch“ behandelt werden müssen: Man muss sich die spezifischen Bedingungen und Begleitumstände jedes Einzelfalls genau anschauen und daraus fortlaufend reflektiert, geduldig und präzis eine jeweils „maßgeschneiderte“ situative Lösung herleiten.

Das missachtet Vance, wenn er behauptet, das Schema der „moralischen Vorzugsregeln“ gehöre zur wesentlichen Botschaft – sozusagen nicht bloß zum „außerordentlichen“, sondern zum „ordentlichen Lehramt“ – des Christentums, indem er verfälschend behauptet, die „moralischen Vorzugsregeln“ seien essenzieller Bestandteil von Jesu fundamentalen Aussagen zur Nächstenliebe. Das trifft nicht zu. Wahr ist vielmehr, dass eine spätere Entwicklung der christlichen Theologie die „moralischen Vorzugsregeln“, die einen Universalgegenstand, einen „Commonplace“ aller ethischen Überlegungs-Kulturen weltweit darstellen, auch in die christliche Doktrin mit einbezogen hat, weil die „moralischen Vorzugsregeln“ im Zuge der Entwicklung einer differenzierten, umfassenden Theologie schlicht ebenso unentbehrlich wie selbstverständlich sind. Jesus aber, wie er uns aus den Evangelien entgegentritt, hat eine solche „philosophische Pedanterie für schwierige Sonderfälle“ mit keinem Wort erwähnt und steht deren widersinnigem „In-den-Vordergrund-Zerren“ vehement entgegen.

Handelt es sich beispielsweise bei einer Migrationskrise also wirklich um eine sozialethische Notsituation, dürfen die „moralischen Vorzugsregeln“ in der Tat auch aus christlicher Sicht angewandt werden – ob eine Gesellschaft aber wirklich mit einer entsprechend katastrophalen Migrationskrise konfrontiert ist, ist eine Einschätzung, die man besser nicht Populisten überlassen sollte. Jesus ist ein entsprechendes Ängste-Schüren völlig fremd – seine zentrale Verkündigung lautet ganz im Gegenteil: „Habt keine Angst!“

Hat man das erkannt, entpuppt sich die Äußerung von Vance als tiefe Unrichtigkeit.

Die resümierende Feststellung mag trivial klingen: Im Umfeld von Donald Trump gibt es keine Kultur sauberen, intellektuell redlichen Denkens.

„Where is the wisdom we have lost in knowledge? Where is the knowledge we have lost in information?“

(T.S. Eliot, „The Waste Land and Other Poems“)

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„Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.“

(Ludwig Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen“, 1953)

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„Misstraue nur den ‚seit langer Zeit Geretteten‘!“

(Ludwig Hohl, „Notizen“, „Erreichbares/Unerreichbares“, 116)

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(Hakuin Ekaku (1685-1768), „The Sixth Patriarch’s Rice Mill“, Public Domain)

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„Als Anfänger reagiert man auf alles mit einer Theorie; später, wenn man eingesehen hat, wie wenig zu ändern ist, nimmt man alles persönlich.“

(Siegfried Lenz, „Das Vorbild“, gegen Ende des 13. Kapitels)

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„But if I know not even the tail of this whale, how understand his head? much more, how comprehend his face, when face he has none? Thou shalt see my back parts, my tail, he seems to say, but my face shall not be seen. But I cannot completely make out his back parts; and hint what he will about his face, I say again he has no face.“

(Herman Melville, „Moby Dick“)

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„O der Menschenkenner! Er stellt sich kindisch mit Kindern; aber der Baum und das Kind suchet, was über ihm ist.“

(Friedrich Hölderlin, „Falsche Popularität“)

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„On peut tout acquérir dans la solitude, hormis du caractère. – In der Einsamkeit kann man sich alles erwerben, außer Charakter.“

(Stendhal, Fragments divers, no. 1, „De l’amour“)

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