Wissen, was wirklich gespielt wird

Im folgenden möchte ich noch einmal zum Thema Verschwörungsideologien zurückkehren, indem ich einen Flyer mit dem Titel „Wissen, was wirklich gespielt wird… – Krise, Corona und Verschwörungserzählungen“ kommentiere, den die Amadeu-Antonio-Stiftung dieses Jahr herausgebracht hat aus Anlass des deutlichen Zunehmens von Verschwörungsmythen, das durch die Covid-19-Pandemie genährt wurde. Das Impressum des Flyers gibt bekannt: „Eine Publikation des Projekts ‚No World Order. Handeln gegen Verschwörungsideologien‘ der Amadeu Antonio Stiftung“.

Der Flyer startet bei der Frage nach den Gründen dafür, dass manche Menschen eine bessere „Ambiguitätstoleranz“ haben als andere (S. 4). Er gibt darauf aber keine Antwort. Wenn Antworten für das sehr begrenzte mediale Format eines Flyers zu komplex ausfallen, dann sollte man sich fragen, ob es überhaupt Sinn hat, sie in einem Flyer aufzuwerfen. Das ist genau die Grundfrage, die sich bei der Lektüre des Flyers, über den wir hier sprechen, immer wieder stellen wird.

Ich möchte nicht verschweigen, dass ich persönlich eine ganz klare Antwort auf diese Frage sehe: Ich glaube, dass „Ambiguitätstoleranz“ ohne eine echte und ernsthafte spirituelle Reife überhaupt nicht möglich ist. Es gibt so etwas wie eine grundsätzliche neurotische Angst vor Geheimnissen als Folge des ent-spiritualisierenden Effekts der Aufklärung. In der Religion waren Geheimnisse etwas Heiliges – in der post-religiösen Kultur wird jede Art von Geheimnissen unweigerlich zu etwas per se Bedrohlichem. Ich predige keine Rückkehr zu mystifizierender Religiosität, aber ich meine, auch die neue, vergleichsweise säkularere Spiritualität, die unserer Zeit gemäß ist, muss trotzdem die uralte Aufgabe übernehmen, die (potenzielle) Heiligkeit von Geheimnissen wiederherzustellen. Andernfalls treibt der Mangel an Ambiguitätstoleranz viele Menschen nahezu unausweichlich in eine ursachenspezifische Form von wahnhafter seelischer Erkrankung, zu deren Symptomatik die Verschwörungsideologien zählen.

Der hier zu besprechende Flyer hat ein wenig die Tendenz, sich in einem Duktus etwas wohlfeiler Analysen zu ergehen, die in einem dem Stiftungszweck gegenüber ohnehin wohlwollenden Leser (wird es andere geben?) zumeist nicht mehr als einen recht niederschwelligen „Ja-genau“-Effekt auslösen, der strukturell im Grunde genau das Funktionsmuster jener bequemen mentalen Selbstbestätigungsschleifen verstärkt, deren sich auch Verschwörungsideologen vorrangig bedienen. Hier hätte man überlegen können, ganz bewusst einen formalen Unterschied zu machen, anstatt sich im Text ungefähr so verständnisinnig auszudrücken, wie eine psychologische Krisenintervention versuchen würde, ihren Patienten in seinem geistig-seelischen Zustand „abzuholen“, um ihn mit den Mitteln des Vertrauensaufbaus behutsam von diesem zu distanzieren. Ist das hier die richtige Strategie? Wer ist denn die Zielgruppe?

Die Autoren bezeichnen „Vernunft und Solidarität“ als die beiden hauptsächlichen der geistigen Krisendynamik zum Opfer zu fallen drohenden Güter (S. 6). Das ist eine personalisierende Formulierung, die wenig hilfreich ist. Niemand möchte sich Mangel an Vernunft und Solidarität vorwerfen lassen, auch Verschwörungsideologen nicht. Objektiver formuliert geht es darum, dass die interne Kommunikationsfähigkeit und die Funktionalität unserer Gesellschaft durch den Einfluss von Verschwörungsideologien beträchtlichen Schaden nehmen, wenn die Wahrheit nicht mehr ermittelt werden kann, weil seit langem etablierte pragmatische Kriterien für Wahrheitsfindung plötzlich nicht mehr akzeptiert werden sollen.

Es wird der Mechanismus der „Sündenbock“-Suche aufgezeigt. „Diese Personalisierung erzeugt Hass auf diejenigen, die für die ‚Gruppe Mächtiger‘ gehalten werden. In der Regel handelt es sich dabei um eine antisemitische Verschwörungserzählung, weil seit Jahrhunderten der Mythos einer ‚jüdischen Weltverschwörung‘ verbreitet wird. Antisemitische Texte, wie die ‚Protokolle der Weisen von Zion‘, bilden leider noch immer die Blaupause für moderne Verschwörungsideologien und -mythen. Es gibt stets Verschwörungsideolog*innen, die alles Böse ‚den Juden‘, der Familie Rothschild oder George Soros und ihrer angeblichen Verschwörung anhängen.“ (S. 7) Das deckt sich zwar mit meiner persönlichen Erfahrung aus eigenen Gesprächen. Es wäre aber wichtig, den „Roter-Faden“-Charakter des Antisemitismus hinter sämtlichen gängigen Verschwörungsideologien möglichst eingehend, konkret und detailliert zu beweisen, damit man es den Verschwörungsideologen nicht zu leicht macht, den „Spieß umzudrehen“ und diese „Pauschalisierung“, wie sie in dem Flyer formuliert wird, ihrerseits zu einem Teil der Verschwörung zu erklären. Dem Thema Antisemitismus widmet der Flyer abschließend sogar noch einmal einen besonders langen eigenen Abschnitt (S. 27-28). Dort wird zwischen die Familie Rothschild und George Soros auch noch der Name von Anetta Kahane eingefügt – der Vorsitzenden der Amadeu-Antonio-Stiftung. Das ist zwar nicht unverständlich und nicht unberechtigt, macht aber keinen guten Eindruck. Es spielt den Verschwörungsideologen allzu bequem den Ball zu, den Stiftungs-Flyer selbst wiederum als ein vorgebliches Zeichen für die politische Macht „der Juden“ zu missbrauchen. Ich hätte der Redaktion von der Disbalance abgeraten, den Aspekt des Antisemitismus so überaus stark in den Mittelpunkt zu rücken – trotz aller grundsätzlichen Schlüssigkeit, auf den beinahe konstitutiven Zusammenhang zwischen Verschwörungsideologien und Antisemitismus hinzuweisen.

Der Flyer merkt an, dass typische verschwörungsideologische „Erkenntnis“ nicht „gewonnen“, sondern „gesetzt“ und dann nur noch „bewiesen“ wird. Immer wieder geht er auf die Notwendigkeit von Selbstkritik, Ambiguitätstoleranz und Falsifizierbarkeit ein. Nur nützt eine solche Empfehlung demjenigen praktisch wenig, dem es aus psychologischen Gründen unerträglich ist, diese Haltungen einzunehmen; derjenige aber, der nicht von einer Verschwörungsideologie „abbekehrt“ werden muss, sondern Hilfe zum Argumentieren gegen die Verschwörungsideologien anderer sucht, wird mit Hinweisen in diese Richtung nicht viel anfangen können. Angesichts dessen bleibt am Ende der Einleitung nicht viel mehr übrig als der mäßig attraktive Nachhall eines schulmeisterlich belehrenden Tonfalls.

Im anschließenden Hauptteil wird sachlich gegen einzelne besonders populäre Verschwörungsmythen argumentiert, die ursächlich mit dem Coronavirus zusammenhängen oder mit diesem nachträglich eine Verbindung eingegangen sind. Grundsatztheoretisch besonders interessant ist dabei das Kapitel 6: „Die Rechtfertigung einer Pandemie ist menschenfeindlich“ (S. 20). Darin heißt es: „Wer die COVID-19 Pandemie als ‚Abwehrkampf der Natur‘ oder gar als ‚Rache Gottes‘ missdeutet, die*der zeigt sich menschlichem Leid gegenüber ignorant.“ Dann ist die Bibel also menschlichem Leid gegenüber ignorant – ich erwähne nur Exodus 32,35, Numeri 25,8-9 und in gewissem Sinne auch Numeri 21,4-9 als klare Beispiele für Seuchen als Strafe Gottes. Der Flyer liefert hier also abermals eine Unterkomplexität ab, in diesem Fall eine theologische, zu der man nur sagen kann: „Si tacuisses…“

Ganz „munter“ heißt es jedoch weiter: „Die Vorstellung von der Natur als einem ‚Wesen‘, das sich von den Menschen, wie von einem Virus, befreien muss, ist eine mystische Vorstellung. Diese Ideologie macht eine problematische Unterscheidung zwischen der reinen, vollkommenen, guten Natur und den bösen, lasterhaften Menschen. Die Natur wird dabei nicht als ein ökologisches Zusammenspiel unterschiedlicher Zellstrukturen begriffen, sondern als ein ‚Wesen‘. Für dieses ‚Wesen‘ wird wiederum mehr Mitgefühl aufgebracht als für Menschen, die Gefühle wie Angst oder Einsamkeit empfinden können. Einige religiöse Fanatiker*innen gehen sogar so weit, die Corona-Pandemie als Rache Gottes für Homosexualität und Feminismus zu deuten. Sie instrumentalisieren millionenfaches Leid zugunsten ihrer menschenfeindlichen Propaganda. Eine Pandemie ist eine schreckliche Katastrophe, die durch nichts gerechtfertigt werden kann und deren Opfer Empathie und Solidarität verdienen.“ Dieser Absatz ist in mehrerlei Hinsicht hochproblematisch. Zuvorderst, weil er extrem unterschiedliche Dinge in einen Topf wirft und höchst unsauber miteinander vermengt. Wenn sich die Sache in der gebotenen Kürze eines Flyers nicht angemessen darstellen lässt, hätte man sich entscheiden sollen, sie wegzulassen. In der vorliegenden Präsentation ist der Gegenstand jedenfalls in einer nicht akzeptablen Weise behandelt. Dass die Autoren sich vermutlich nicht im Klaren darüber sind, wovon sie reden, wenn sie den Terminus „Mystik“ gebrauchen, ist eine Sache – ein andere ist, dass echte Mystiker eigentlich ihre besten Verbündeten im Kampf gegen Verschwörungsideologen sind. Leider weiß man das in der Flyer-Abteilung der AAS nicht.

Die Ablehnung der Bewertung des Planeten Erde in seiner Gesamtheit als eines „Organismus“ ist ebensowenig streng wissenschaftlich haltbar wie die Behauptung des Gegenteils. Sich auf dieses argumentative Glatteis zu begeben, war eine ganz schlechte Idee. Und sehr viele Menschen, die über planetare Organismen gerne diskutieren würden, stehen in keinerlei Verbindung mit Homophobie und Antifeminismus.

Das Kapitel 7, „Wir können nicht immer alles unmittelbar verstehen“ (S. 22.), beginnt so: „Zu wissen, was man nicht weiß, ist der beste Teil des Wissens“ soll der chinesische Philosoph Laotse bereits im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung festgestellt haben.“ Ähm, auch der Grieche Sokrates hat das gesagt – nur wenig später, dafür aber historisch wesentlich besser belegbar als der sehr fiktiv anmutende Laotse, dem schon alle möglichen Aussprüche untergeschoben worden sind. (Achtung: große Laotse-Verschwörung??) Der Eindruck einer Verwurzelung der Flyer-Autoren in europäischen Bildungstraditionen verflüchtigt sich mehr und mehr, je länger man in ihrem Traktätchen liest. Das ist gewiss kein Hauptargument, aber auch nicht vorteilhaft.

Anknüpfend an die zusammenfassende Charakterisierung von Verschwörungsideologen mit dem Satz: „Alles, was mich verunsichert, ist Teil der Verschwörung“ (S. 23) wird im Schlussteil die Frage gestellt: „Was macht Menschen in der Krise so anfällig für Verschwörungsideologien?“ (S. 24) Der Flyer beantwortet diese Frage, indem er Verschwörungsideologien vier Funktionen zuschreibt: Erstens stifteten sie Sinn und Erkenntnis in der Unübersichtlichkeit. Zweitens lieferten sie „leicht anschlussfähige“ Identitätsangebote. Drittens wirkten sie manipulativ in Richtung einer Beruhigung, Bestätigung und Bestärkung angesichts von anderweitig nicht hinreichend Erklärlichem. Und viertens legitimierten sie bestimmtes Verhalten, bis hin zu extremer außergesetzlicher Gewaltanwendung, oder entschuldigten biografisches Scheitern als Reaktion auf die Bedrohung durch „die Verschwörer“. Ich persönlich kann hier allerdings keine vier verschiedenen Punkte erkennen, für mich sind das alles Aspekte desselben einen komplexen psycho-sozio-mentalen Funktionsmechanismus und „Programms“, der Verschwörungsideologen in genau derselben Weise kennzeichnet wie alle „Gnostiker“ im Sinne jener universellen Gnostizismus-Definition, die Eric Voegelin formuliert hat. Damit wird klar, dass Verschwörungsideologien lediglich die neueste Spielart der Gnosis als einer mentalitären Konstante der Menschheitsgeschichte (oder mindestens der abendländischen Geschichte) sind. (Auffällig ist übrigens, wie sehr die Argumente gegen die Einführung der Gurtpflicht den knapp 45 Jahre später vorgebrachten Argumenten gegen die Einführung der Maskenpflicht ähneln.)

Die spezielle Bedeutung der Pandemie für den Boom von Verschwörungsideologien erklärt der Flyer so: „COVID-19 hat etwas Unheimliches an sich. Es ist für das menschliche Auge unsichtbar, man kann es haben, ohne es zu merken, es kann aber auch tödlich sein und hat sich bereits über die gesamte Welt verteilt. Es kann nur durch Forschung und langwierige, restriktive Maßnahmen bekämpft werden. Verschwörungserzählungen, die diesem eher abstrakten Phänomen ein konkretes Gesicht geben, wirken entlastend. Denn all die negativen Gefühle, die pandemiebedingt aufkommen, können so in ein eindeutiges Feindbild ausgelagert und in diesem bekämpft werden.“ (S. 25) Entscheidend ist dabei aber das Bedürfnis zu kämpfen, das meines Erachtens noch viel stärker betont werden muss: Wer nie ein kultivierteres Instrumentarium an Verhaltens-Alternativen zur archaischen Stress-Optionen-Trias „Flucht oder Sich-tot-Stellen oder Kämpfen“ entwickelt hat und außerdem typbedingt zu denen gehört, die am liebsten mit „Kämpfen“ auf Herausforderungen antworten, der muss sich einen Feind beschaffen, der sinnlich-konkret bekämpfbar ist; komplexe über- oder außerpersonale Dynamiken wie beispielsweise ein abstrakter freier Markt oder eben auch ein Virus eignen sich dazu nicht. Das ist der eigentliche Grund, weshalb es irgendwo die kleine, fiese Gruppe der „All-Bösen“ geben „muss“.

Der Schüssel zur Eindämmung der gegenwärtigen Verschwörungsideologien-Pandemie liegt darin, dem postmodernen Menschen seine „über-aufgeklärte“ und dabei trotzdem eigentlich nur pseudo-aufgeklärte Angst vor Geheimnissen jeglicher Art zu nehmen. Den Typus des Verschwörungsideologen findet man z.B. auch in der Dürer-Interpretation (siehe insbesondere z.B. die Literatur zu den Gemälden „Selbstbildnis im Pelzrock“ oder dem Stich „Melencolia I“). Es besteht ja kein Zweifel, dass der bewusste Mystifizierungstrend der Renaissance solchen Spekulationen aktiv Vorschub leistet und dass die betreffenden Interpreten sich das Vorhandensein von Geheimnissen hier keineswegs bloß einbilden – dennoch erliegen sie hinsichtlich der „Authentizität“ und „Gewichtigkeit“ der Gründe dafür einer Täuschung, die entscheidend in ihrem eigenen Charakter verursacht wird, und nicht in dem von Albrecht Dürer und seinen Zeitgenossen. Verschwörungsideologen suchen den Unterschied zwischen wahr und falsch an einer Oberfläche der Dinge, unter die sie seelisch nicht zu dringen imstande sind; „unterhalb“ davon gibt es diesen Unterschied durchaus, das heißt, aus der Perspektive der Tiefe – die letztlich aber immer nur spirituell sein kann – erweisen sich die Oberflächen-Wahrheiten der Welt in der Tat zumeist als erheblich unwahr. Verschwörungsideologen nehmen in gewissem Sinne etwas grundlegend Zutreffendes wahr, nur interpretieren sie es mangels geeigneter geistig-seelischer Kompetenz auf eine gravierend unzutreffende Weise: Sie verkennen oder verleugnen die Diskrepanzen, die sie in sich selbst tragen, und projizieren diese stattdessen bis hin zur Wahnhaftigkeit nach außen.

Nur wer das erkannt hat, weiß, was wirklich gespielt wird.

Fischen im Trüben

Dass im Herbst der Memminger Stadtbach ausgefischt wird, um abgelassen und gereinigt werden zu können, hat sich über die Jahrhunderte zu einem großen, brauchtumsumrahmten Volksfest entwickelt. Es hat sich schon vor langer Zeit der „Fischertagsverein Memmingen e.V.“ gegründet, der das besucherreiche Ereignis seit hundert Jahren organisiert. Wie bei historischen Traditionen allgemein üblich, ist auch diese nicht geschlechtsneutral: Frauen dürfen bisher nicht ins Wasser.

Nachdem Diskussionen darüber ergebnislos blieben, klagte schließlich eine Memmingerin gegen ihre Diskriminierung und bekam im August 2020 vom Amtsgericht ihrer Stadt recht. In dieser Sache, in der in einer interessanten und dem Urteil nach in Deutschland erstmaligen Weise das Grundrecht der Gleichberechtigung gegen die Vereinsautonomie stand, argumentierte die Richterin mit drei Punkten:

Erstens mit der beträchlichen Außenwirkung der Veranstaltung, die eine soziale Machtstellung ihres Trägervereins in der Kommune begründe, weshalb der partielle Ausschluss bestimmter Bevölkerungsgruppen von bestimmten Vollzügen der betreffenden Veranstaltung bedenklich weitreichende politische Folgen habe, deren Handhabung man nicht allein der Vereinsautonomie überlassen könne.

Zweitens mit der steuerrechtlichen Begünstigung des gemeinnützigen Vereins, in dem aber die „passive“ und „zahlende“ sowie – was das konkrete Stadtbachfischen angeht – „kübelhalterische“ Mitgliedschaft auch Frauen schon seit langem offen steht.

Und drittens mit der nachweislichen Entwicklungsdynamik ideologisch für unverrückbar erklärter Traditionen; denn der Fischertagsverein hatte seine Statuten selbst bereits mehrfach erheblich verändert – bei einer Gelegenheit wurde zum Beispiel Männern mit nicht mehr aktuellem, sondern bloß noch ehemaligem Memminger Wohnsitz die aktive Teilnahme am Fischen ermöglicht, was zuvor nicht gestattet gewesen war.

Diese richterliche Argumentation ist offenkundig bewusst so angelegt, dass sie nach ihrer Übertragung auf andere vereinsrechtliche Fälle verlangt. Das macht die Memminger Causa so interessant und weithin relevant.

Richten wir aus diesem Zusammenhang heraus den Blick nun einmal auf die römisch-katholische Kirche. Auch dort dürfen Frauen bekanntlich nicht alles, was Männer dürfen.

Dass es zwischen einer Weltreligion und dem Memminger Stadtbachfischen gewisse Unterschiede geben könnte, ist auch mir nicht entgangen. Aber:

Es ist in Wahrheit gar nicht so leicht überzeugend zu entscheiden, wann eine Tradition „religiös“ begründet ist und wann nicht. Warum sollten dem uralten Identitätszeremoniell einer Kommune eigentlich nicht im weitesten Sinne religiöse Züge zuerkannt werden? Das ist zwar keineswegs meine persönliche Meinung – aber die wissenschaftliche Religionsgeschichte wird einer solchen Anerkennung eindeutig zuzustimmen haben.

Wenn nun ferner dem Standpunkt ultrakonservativer Katholiken stattzugeben wäre, dass sämtliche Gepflogenheiten ihrer Kirche unterschieds- und hierarchielos als zentrale Glaubenswahrheiten einzuordnen sind, dann dürfte sich säkulare Justiz konsequenterweise auch nicht in Probleme beispielsweise mit dem kirchlichen Arbeitsrecht einmischen. Was sie aber längst selbstbewusst tut – zurecht.

So gesehen kann keineswegs einfach als „selbstverständlich“ behauptet werden, dass der Männlichkeitsvorbehalt und Pflichtzölibat des katholischen Priestertums unmöglich gleichfalls in obigem Sinne auf den weltlichen Prüfstand gestellt werden könne, da diese Regelungen zutiefst spirituell begründet seien und direkt aus der Wurzel des christlichen Glaubens hervorgingen, weshalb dessen angemessene Bewahrung ihrerseits wiederum von der strikten Beibehaltung solcher äußerlicher Praxis abhänge.

Um dagegen einmal mit der Memminger Richterin zu argumentieren:

Die weltgesellschaftliche Außenwirkung des katholischen Priestertums ist immens und erfasst alle Gesellschaftsbereiche, auch rein weltliche, in denen karitative Einrichtungen der katholischen Kirche tätig sind.

Deutsche Katholikinnen zahlen ebenso wie deutsche katholische Männer Kirchensteuer an die steuerbegünstigte Körperschaft römisch-katholische Kirche.

Und dass die römisch-katholische Kirche ihre angeblich so monolithischen Traditionen immer wieder massiv verändert hat – zuletzt ganz besonders, wie aus Hubert Wolfs jüngstem Buch „Der Unfehlbare“ (2020) spektakulär hervorgeht, unter Pius IX. (1846-1878) mit seiner Dogmatisierung des Jurisdiktionsprimats und der Unfehlbarkeit des Papstes, die es zuvor nie gegeben hatte -, was dann lediglich stets der systematischen „Innovationsverschleierung“ (Michael Seewald) unterzogen wurde, ist im Licht neuerer wissenschaftlich-kirchengeschichtlicher Erkenntnisse völlig unleugbar.

Das alles sind freilich keine als eigentlich theologisch zu akzeptierenden Argumente – aber die soziale Situation ihrer Priester ist möglicherweise auch kein der katholischen Kirche zuzugestehender Ermessens-Gegenstand ihrer rein theologischen Eigenwahrheitssphäre, solange diese Priester ihr Leben nicht ausschließlich hermetisch unter Katholiken verbringen, die in Fragen der Priesterrolle alle zuverlässig gleichgeschaltet denken.

So sehr ich persönlich eine „Wir-wollen-endlich-auch-mal-dürfen“-Mentalität im Hinblick auf das Priestertum für spirituell verfehlt, weil unsäglich ego-inflationär halte (ohne damit den herkömmlichen römisch-katholischen Klerikern zu unterstellen, sie seien niemals egozentrisch motiviert), so sehr halte ich es doch für geboten, dass die römisch-katholische Amtskirche mit erheblich größerer Ernsthaftigkeit, als sie sie diesem Thema gegenüber bislang aufgebracht hat, über mögliche Konsequenzen aus dem Memminger Urteil nachdenkt.

Vielleicht wäre es nicht unklug, vorsorglich schon mal das Fach „Kübelhalten“ in die Lehrpläne der spärlich besuchten Priesterseminare mit aufzunehmen?

„Safe Abortion Day“?

Der 28. September hat sich in den letzten Jahren weltweit als Aktionstag für den Zugang zu sicherer und straffreier Abtreibung durchgesetzt. In diesem Zusammenhang erreichte mich diesmal bereits einige Tage zuvor per E-Mail die Aufforderung, eine entsprechende Online-Petition zu unterschreiben. Ich unterschreibe relativ viele der Petitionen, die mich auf diesem Wege erreichen. Diese habe ich allerdings nicht unterschrieben. Weil der Anlass konkret ist – ICH sollte etwas TUN -, merkte ich, dass das ein geeigneter Anlass war, einmal über das Problem der Abtreibung zu schreiben, was ich ohne einen irgendwie mich selbst angehenden Anlass eher nicht tun würde.

Die meisten Menschen fühlen sich beim Thema Abtreibung offensichtlich immer sofort zu äußerst grundsätzlichen Stellungnahmen aufgerufen. Das ist verständlich. Bei allen bioethischen Fragen, die den Anfang und das Ende des Lebens betreffen, wird der Mangel unseres sicheren rationalen Wissens über das, was jenseits der Grenzen des Lebens liegt, besonders schmerzhaft, weil existenziell orientierungsbehindernd, und „schreit“ deshalb nach ideologischen Positionsklärungen. Gerade deshalb aber scheint mir Vorsicht und Zurückhaltung mit entsprechenden Kundgebungen geboten zu sein.

Christen werden in dieser Angelegenheit regelmäßig mit einer Position des radikalen Lebensschutzes identifiziert und identifizieren sich tatsächlich vielfach selbst bewusst damit. An dieser Stelle möchte ich mit meinem kritischen Hinterfragen beginnen, mit dem ich beide Seiten der üblichen Debatte gleichermaßen in den Blick nehmen werde.

Muss man die Äußerungen Jesu in den Evangelien etwa so verstehen, dass im Christentum die Absolutsetzung der Bedeutung der individuellen Lebensform – „ich“, „du“ – keine Grenze kennt? Hat Jesus dem Einzelnen verkündet: „Du, in deiner Ichhaftigkeit, bist das Wichtigste, was es gibt auf der Welt?“ Ich kann mich nicht erinnern, je einen qualifizierten Theologen gehört zu haben, der das Evangelium so auslegte.

Fragen wir einmal so: Behindern wir Gott in seinem Schöpferwirken, wenn wir mitverschulden – so unerfreulich das zweifellos in jedem Fall ist -, dass eine bestimmte individuelle Lebensform den biologischen Prozess des In-der-Welt-Seins schon wieder beendet, kaum dass er sich angebahnt hat? Die Annahme, dass seine Geschöpfe Gott behindern, ist im Monotheismus grundsätzlich nicht möglich. Er hat auf der Erde eine Menge Spezies geschaffen, bei denen regulär jeweils nur eines aus Hunderten, Tausenden oder gar Millionen (so genau kenne ich mich da nicht aus) von befruchteten Eiern zur Reife gelangt. Natürlich ist die Spezies Mensch durch eine andere Fortpflanzungsstrategie charakterisiert. Aber ein bisschen mehr „biologische“ Relativierung als bisher üblich ist grundsätzlich auch im Christentum theologisch gut begründet vorstellbar, ohne dass es sich dabei gleich um eine „biologistische“ Relativierung handeln muss.

Entscheidend kommt zu diesem Gedanken hinzu: Wir sprechen bei Abtreibung ja von Fällen, in denen kein psychisches Interesse der Eltern, vor allem der Mutter, an dem Kind besteht. Das ist in sich der nächste wesentliche Argumentationspunkt: Welchen menschlich erkennbaren Sinn hat denn das Leben eines Kindes in der irdischen Welt, wenn es nicht in ein Minimum an Geborgenheit durch elterliche Liebe hineingeboren wird und daher einem absehbar düsteren seelischen Schicksal entgegengeht? Was tun wir, wenn wir über einer abstrakt-theologischen „Beanwaltung Gottes“ diese sehr praktisch-reale triste Seite eines Daseins ignorieren, das von Müttern gesetzeserzwungenermaßen ausgetragen wird, die lieber abtreiben würden?

Nun kommen wir aber zur anderen Seite.

Wann immer ich von Aktivistinnen (und Aktivisten) für „sexuelle Selbstbestimmung“ höre und lese, habe ich das Gefühl, dass es sich bei diesen Menschen um sehr große Egozentriker handelt. Sexualität hängt aber nun mal ihrem biologischen Ursprung nach entscheidend mit Fortpflanzung zusammen, und Fortpflanzung bedeutet ganz grundlegend immer das genaue Gegenprinzip zur Egozentrik – sie bedeutet ihrem ganzen Wesen nach ein Herausgezwungenwerden aus den nur-eigenen, nur-ichhaften Maßstäben. Auch ich bin der Meinung, dass Sexualität neben ihrem Fortpflanzungszweck noch einen selbständigen Mehr-Sinn trägt, einen Sinn für die Liebe. Aber der besteht nicht darin und wird nicht darin erfüllt, angesichts eines Wegfalls der engen biologischen Zwänge der „Brutpflege“ wieder in ungehemmte Egozentrik zurückzufallen; sondern auch und gerade der selbständige „reine Liebes-Sinn“ der Sexualität (der wegen seiner Abkoppelung von der Fortpflanzung auch homosexuell gelebt werden kann) erfüllt sich nur in einem liebevollen Blick auf den Anderen, der in seiner Totalität der Liebe über den selbstbezüglichen Horizont bloßen sexuellen Verlangens und Lustbefriedigens kategorisch weit hinausgeht. Der konstitutive anti-egozentrische Effekt der stimmig gelebten Sexualität hat seinen Ursprung also in den natürlichen Gesamtzusammenhängen der Fortpflanzung, reicht aber über diesen ursprünglichen Kontext hinaus auch in all jene kulturellen Bereiche der körperlichen Liebe hinein, in denen es nicht um Fortpflanzung geht. Egozentrische Interessen sind nie das richtige und wahre Ziel.

Auf der anderen Seite pflegen religiös fundamentalistische radikale Abtreibungsgegner indirekt ebenfalls einen Egozentrismus, nämlich sozusagen einen Egozentrismus „by proxy“ – um mich hier in der Namensgebung einmal an das „Münchhausen-by-proxy“-Syndrom anzulehnen -, der sozusagen schon dem Fötus oder gar schon dem Embryo ichhafte Lebensinteressen unterstellt. Da wir den Überlebenswillen eines Fötus aber objektiv schlicht nicht beurteilen können, muss auch die geistige Grundlage der abtreibungsgegnerischen Position mit erheblicher Skepsis betrachtet werden angesichts einer Gesamtheit der uns umgebenden „Natur“, in der, wie wir oben bereits festgestellt haben, eindeutig das „Luxurieren“ mit individuellem Leben und insbesondere mit dessen Frühstadien an der Tagesordnung ist.

Aus alledem kann nur folgen: Wir müssen beim Thema Abtreibung zwei gegenläufige Interessen sehr behutsam miteinander vereinbaren: einerseits den Schutz des Lebens, und andererseits das Ermöglichen von Abtreibung in einigen bestimmten Fällen. Wie macht man das aber ganz praktisch nun am besten?

Ein empfehlenswertes methodisches Prinzip in dieser Sache ist, immer möglichst eng bei konkreten Einzelfragen zu bleiben und diese fallweise zu entscheiden. Je echter ein ethisches Thema wirklich ein ethisches Thema ist, desto weniger lässt es sich sinnvoll auf der Basis von Pauschalgrundsätzen klären und regeln. Diese Feststellung ist freilich für viele schon mal die erste schwer zu schluckende Pille. Angesichts ernsthafter ethischer Probleme drängt alles in uns nach hehren moralischen Prinzipien – aber die Wahrheit ist, diese helfen nicht, und wir entwickeln uns an solchen ethischen Problemen überhaupt nur dann ernsthaft geistig und charakterlich weiter, wenn wir vom naiven Drang zu simplizistischer Prinzipienreiterei bewusst Abstand nehmen.

Wie aber muss sich diese Forderung nach bekennendem „Kasuismus“ in punkto Abtreiben zu Rechtsbedingungen verhalten, die Kasuismus gar nicht zulassen, weil sie Abtreibung von vornherein stigmatisieren? Sollte man unter solchen Umständen zuerst einmal plakativ das diametrale Gegenteil dessen fordern, was die restriktiven Rechtssetzungen verlangen, um auf eine sehr laute Weise Öffentlichkeit zu schaffen für das Ungenügen oder gar die Ungerechtigkeit des bestehenden Rechts?

Vielleicht – und diese Antwort meine ich hier in dem Sinne, dass ein solches Vorgehen vielleicht tatsächlich realistisch dem unüberwindbar auf Polarisierungen beruhenden pendelnden Muster der Dynamik entspricht, nach der sich menschliche Gesellschaften weiterentwickeln – auf eine Weise, die dem Geistesmenschen nicht sehr intelligent vorkommt, aber die den Eindruck einer beharrlichen harten Realität erweckt, mit der man leben lernen muss, anstatt mit ihr zu hadern.

Was dennoch nicht bedeutet, dass ich aus bloßen taktischen Erwägungen heraus entsprechend polarisierende Petitionen unterschreiben muss, wenn ich an den Sinn der Polarisierung persönlich nicht glaube und das einzig erstrebenswerte Ziel vielmehr darin erkenne, in den Einzelfällen zu sehr behutsamen situativen Kompromissen zu gelangen.

Die Petition, die mir vorgelegt wurde, forderte ausdrücklich, es dürfe keinerlei Verpflichtung für Schwangere mit Abtreibungswunsch geben, an einer Schwangerenkonfliktberatung teilzunehmen. Das geht mir viel zu weit. In der Verpflichtung zum Sich-Beraten-Lassen vor einer Abtreibung sehe ich die verfahrensethisch notwendige Einforderung einer Verantwortlichkeit gegenüber dem Ganzen der Situation, einschließlich der Frage des zu schützenden Lebens, die nicht ignoriert werden darf.

In der scharfen Ablehnung der Beratungspflicht äußert sich in meinen Augen wieder die maßlose Egozentrik der Aktivisten für „sexuelle Selbstbestimmung“, die in mangelndem Realismus verkennt, dass ohne ein organisiertes gesellschaftliches Herantragen von Einsichtsimpulsen an den Einzelnen keine menschliche Gesellschaft akzeptabel funktionieren würde. Wäre es nicht so, hätte beispielsweise die ganze Schulpflicht keinen Sinn. In diese Richtung will ich die Debatte hier freilich nicht ausweiten. Aber wenn wir beispielhaft an eine sehr junge Frau denken, die schwanger geworden ist, weil sie charakterlich nicht dazu neigt, sich über ihr Leben sonderlich viel Gedanken zu machen, deren familiärer Hintergrund vielleicht nicht sehr bildungsaffin ist und die daher nicht sehr viel über ihre Situation und deren vielfältige Implikationen „weiß“, und die noch dazu unter dem körperlichen, hormonellen, psychischen, sozialen, organisatorischen und geistigen Stress ihrer ersten Schwangerschaft steht, dann ist es vollkommen realitätsfern zu behaupten, diese Person könne „selbstverständlich“ allein, ohne jede Hilfe, qualitativ gute und sichere Beurteilungen und Entscheidungen über ihre Zukunft und mithin über ihre Schwangerschaft treffen.

Gewiss mag man vielleicht die Befürchtung äußern, Personen, die sich dafür interessieren, entsprechende Schwangerenberatung berufsmäßig anzubieten, werden dazu durch ganz bestimmte weltanschauliche Positionen motiviert sein, die entweder im einen oder im anderen Extrem des Spektrums an grundsätzlichen Meinungen zur Abtreibung liegen. Darauf lässt sich aber nur antworten, dass die Welt weder perfekt noch perfektionierbar ist und dass wir nur das Möglichste tun können, das die Anstrengung der Vernunft uns jeweils als wahr und richtig und empfehlenswert erkennbar macht.

Was hiermit, wie ich hoffe, hinreichend skizziert sein möge.

Die Freiheit der Fehlbaren

Wie überaus kritisch der katholische Priester Hubert Wolf in seinem aufrüttelnden Buch „Der Unfehlbare“ (2020) die „Erfindung des Katholizismus im neunzehnten Jahrhundert“ – so der Untertitel – darstellt, lässt für mich nur einen Schluss zu: Gegenwartspraktisch möchte der Autor mit diesem Buch einen Beitrag leisten zur Vorbereitung der deutschen Katholiken auf eine neuerliche relative Ablösung von Rom. Als führender deutscher Kirchenhistoriker weiß Wolf detailreich belegt zu schildern, dass die katholische Kirche vor der Französischen Revolution nie so sehr vom Papsttum abhängig war wie seit Pius IX. (1846-1878), dessen Schilderung aus Wolfs kompetenter und sachlicher Feder bisweilen wahrlich sprachlos macht. Auch wenn der populäre Münsteraner Professor die Zustände im katholischen Deutschland vor 1803 beileibe nicht insgesamt als vorbildlich darstellt, wird doch deutlich, dass er im Zurückgehen hinter die geradezu dreiste „invention of tradition“ des Ultramontanismus im neunzehnten Jahrhundert, hin zu einer – freilich wohldurchdachten – postmodernen Quasi-Wiederbelebung oder relativen Wiederbelebung des älteren „bunt-katholischen“ Pluralismus der vormodernen „Germania Sacra“, eine durchaus mögliche aktuelle Strategie gegen die große Not katholischer Christen im heutigen Deutschland erkennt: die Not nämlich, dass vom Vatikan aus, indem man sich dort unbeirrt pauschal auf „den Rest der Welt“ beruft, die katholische Kirche in Deutschland in den gesellschaftlichen Untergang gerissen und gezwungen wird – eine profilierte Teilkirche, die, wie Wolf überzeugend zeigen kann, nicht erst seit fünfzig, sondern schon seit mindestens hundertfünfzig Jahren in vielerlei Hinsicht zu großen Teilen geistig deutlich offener eingestellt ist als fast im gesamten „Rest der Welt“ und in der die Anwendung starrer römischer Prinzipienvorgaben mittlerweile völlig anachronistisch und praktisch unmöglich geworden ist. Hubert Wolf führt seinen Leserinnen und Lesern ermutigend vor Augen, dass dieser Untergang nicht sein muss: Es besteht eine tiefe geistige Legitimität, sich als nördlich der Alpen inkulturierte Katholiken dieser römischen Zumutung zu entziehen, die längst aufgehört hat, irgendeinen Sinn zu ergeben.

Praktische Hilfestellung zum Umgang mit Verschwörungsideologen

Hier kommt eine praktische Handreichung für alle diejenigen, die sich mit Verschwörungsideologen auseinandersetzen müssen (in anderen oder vielleicht auch in sich selbst). Solche Vorkommnisse sind ja dieser Tage deutlich häufiger geworden – ausgelöst durch die Tatsache, dass Viren schwer zu verstehen sind. Gewiss, wenn einmal ein geschlossenes Weltbild vorliegt, ist mit der betroffenen Person keine echte Diskussion mehr möglich. Aber es gibt ja glücklicherweise auch noch die Anderen – mehrheitlich sogar. Möge es so bleiben – aber vielleicht müssen wir dafür tatsächlich aktiv etwas tun.

Also, wenn du in Kürze mal wieder einem Verschwörungsideologen gegenüberstehst – dass du ihn als solchen erkannt hast, setze ich hier einfach mal als relativ unproblematisch voraus -, solltest du, anstatt ihn aggressiv zu attackieren, ihm wahlweise folgende interessiert-kritischen Rückfragen stellen, solange er sich das gefallen lässt:

(1.) „Holla, dein Weltbild ist ja heftig negativ. Etwas Positives kommt darin anscheinend überhaupt nicht vor. Wie hältst du es denn aus, in einer so schlechten geistigen Energiesphäre zu leben? Die ist bestimmt noch ungesünder als die stärkste G5-Strahlung. Dir geht es nicht gut damit, oder?“

(2.) „Schaust du dir eigentlich manchmal selber beim Denken zu? Ich meine, ist dir klar, dass die Gründe für das, was du denkst, immer zum Teil auch in deiner eigenen seelischen Persönlichkeit begründet liegen, und nicht nur im Verhalten anderer oder in sonstigen äußerlichen Bedingungen und Umständen?“

(3.) „Du wirkst stark gestresst und nervös. Hast du schon mal vom ‚Henne-Ei-Problem‘ gehört? Nein, das ist keine neue Verschwörungstheorie, sondern es geht dabei um die Frage, was zuerst da war – in diesem Fall: dein tiefes innerliches Unbehagen oder die scheinbaren äußeren Anlässe dafür?“

(4.) „Okay, du sagst, ‚DIE‘ wollen, dass ‚wir‘ alle doof und zufrieden sind – bei dir scheint das ja nicht funktioniert zu haben. Aber warum säufst Du Dir dann nicht lieber einfach die Birne weg, um dich selber aktiv doof und wenigstens stimmungsneutral zu machen oder zu halten, anstatt hier so angestrengt mit mir über all das zu reden? Wäre Alkohol in diesem Fall nicht eine gute Lösung?“

(5.) „Ich vermisse eine nachvollziehbare Logik hinter der Kommunikationshaltung, in der du als Verschwörungsideologe gerade mit mir sprichst: Ich höre mir das ja zwar mehr oder weniger geduldig an – aber warum erzählst du mir das alles eigentlich überhaupt? Du siehst doch, dass ich es nicht glaube. Sollte es dir also nicht höchst wahrscheinlich vorkommen, dass ich zu ‚IHNEN‘ gehöre? Du kannst doch auch sonst ‚eins und eins zusammenzählen‘, wie du sagst. Solltest du mich also nicht sicherheitshalber lieber gleich zu deinen mutmaßlichen finsteren Feinden rechnen und besser gar nicht mehr mit mir reden? Du siehst dich doch in der Opferrolle, sagst du – warum gehst du dann aber mit deiner Verschwörungsideologie hausieren, wenn für dich doch sehr wahrscheinlich sein müsste, dass ‚SIE‘ dir für diesen Geheimnisverrat massiv eins auf die Mütze geben werden? Vernünftig kommt mir das an deiner Stelle nicht vor. Pass mal lieber gut auf dich auf.“

(6.) „Hm – das, was ‚SIE‘ offensichtlich erreichen durch die Handlungen, die du ‚IHNEN‘ zuschreibst, ist, dass es auf der Erde tausende verschiedener Gruppen und Grüppchen gibt, die unterschiedlichen, inkompatiblen, einander widersprechenden Verschwörungsideologen anhängen, wodurch sich die Menschheit immer weiter von ihrer Fähigkeit und Bereitschaft entfernt, miteinander eine funktionierende Gesellschaft zu bilden. Muss ‚IHNEN‘ dieser Verlauf der Dinge aus ‚IHRER‘ Perspektive denn nicht als ein beknackter Schuss in den Ofen erscheinen? Denn ‚SIE‘ wollen doch Kontrolle, nicht Chaos – oder habe ich dich da falsch verstanden? Ich meine, wer der Menschheit bloß blindlings schaden wollte, indem er sie ins Chaos stürzt, könnte dieses Ziel doch sicherlich auch mit weitaus einfacheren Mitteln und weniger Aufwand erreichen (da wüsste sogar ich harmloser Geist spontan mehrere probate Wege, wie das relativ leicht zu bewerkstelligen wäre) – während im Hinblick auf alle anderen, subtileren Zielsetzungen ein bloßer Zerfall des sozialen Miteinanders, wie wir ihn dank Verschwörungsideologen jetzt erleben, doch in jedem Fall als ein Reinfall und als ein unbrauchbares und sinnloses Resultat anzusehen ist, oder?“

(7.) „Eines verstehe ich nicht: Wenn es diese geheimen Super-Machtmittel gibt, von denen du sprichst, weshalb brauchen dann manche sehr mächtigen Politiker bis heute noch andere, plumpere Mittel der Machtausübung? Warum z.B. müssen manche von ihnen im einundzwanzigsten Jahrhundert noch so weit gehen, ihre Gegner ostentativ zu vergiften? Diese Politiker wären dann in ihrer Herrschaftsmethode ja ganz schön rückständig – sind aber trotzdem immer noch ganz oben in der Hierarchie dieser Welt.“

(8.) „Sind Verschwörungen nicht eigentlich politisch überflüssig? Die herkömmliche Argumentationskunst reicht in Verbindung mit ganz banaler struktureller und wirtschaftlicher Macht doch völlig aus, um jedes noch so beliebige zufällige Ereignis in die eigenen Herrscher- und Präsidenten-Pläne geschmeidig einzufügen – das ist doch das, was wir aus der neueren Geschichte sogar als etabliert-wissenschaftliche Historiker wirklich ziemlich zuverlässig ersehen können.“

(9.) „Du willst, dass die Menschen ‚endlich die Wahrheit erfahren‘. Du gehst also davon aus, dass diese Wahrheit verborgen bleiben und geheimgehalten werden soll. Warum ist dann aber das Internet voll von verschwörungsideologischen Beiträgen? Kontrollieren ‚SIE‘, obwohl ‚SIE‘ angeblich so mächtig sind, beispielsweise etwa die größte Videoplattform nicht?“

(10.) „Du meinst, die ganze an den Universitäten etablierte Wissenschaft ist eine einzige Lüge? Du willst also sagen, in deinem Leben habe noch nie ein Medikament gewirkt und noch nie eine Chemikalie das getan, was sie sollte, kein einziges Flugzeug ist je geflogen, keine Wettervorhersage hat je gestimmt, ja nicht einmal ein einziger Lichtschalter hat je funktioniert? Oha – das ist natürlich ein echtes Problem. – Ach so, können wir uns also darauf verständigen, dass es Lebensbereiche gibt, in denen die akademische Wissenschaft Sinn ergibt, und andere Lebensbereiche, in denen sie weniger oder gar keinen Sinn hat? Sehr schön, das klingt vernünftig. – Dann erklär mir jetzt doch bitte mal, wie es mit der Falsifizierbarkeit deiner Verschwörungsideologie aussieht, das heißt, was passieren muss, damit du sie planmäßig als widerlegt anerkennst? Das angeben zu können gehört zu den wissenschaftlichen Grundstandards. – Fehlanzeige? Nun, dann wabert deine Verschwörungsideologie also sowieso nicht auf derselben Wirklichkeitsebene, auf der sich die etablierte Wissenschaft betätigt – folglich wird die etablierte  Wissenschaft durch deine Verschwörungsideologie auch nicht widerlegt, weil die beiden verschiedenen Wirklichkeitsebenen gar keine Berührungspunkte haben und also nicht miteinander konkurrieren. Das ist kein Problem, ich habe sehr viel Verständnis für mystische Weltbilder, in denen die etablierte Wissenschaft keinen Stich macht – aber ich persönlich lasse in so einem Fall dann einfach die etablierte Wissenschaft parallel zur mystischen Wirklichkeit in ihrem eigenen Bereich weiter gelten, das scheint mir nämlich das Gesündeste zu sein.“

(11.) „Über welche überlegene Erkenntnismethodik verfügst du denn? – Du meinst, wir sollten das wissenschaftliche Wahrheitskriterium der Falsifizierbarkeit einfach weglassen? – Hm, strukturell so was Ähnliches hat doch die Bundesministerin Julia Klöckner neulich (pikanterweise kurz nachdem das Coronavirus speziell durch Schlachthöfe verbreitet wurde) auch gemeint: ‚Wir haben nicht genug Lebensmittelkontrolleure – also schreiben wir doch einfach weniger Lebensmittelkontrollen vor!‘ (sinngemäß zitiert). Diese Art von Logik hat mich ehrlich gesagt nicht überzeugt – und hier bei dir überzeugt sie mich ehrlich gesagt auch nicht. Ich glaube dir zwar, dass du von deiner Wahrheit restlos überzeugt bist – nur leider wird sie nur dann als gesellschaftliche Konsensbasis taugen, wenn sie sich vielen anderen Menschen auch mit streng vernünftigen Argumenten vermitteln lässt, weil nämlich diese vielen Anderen prinzipiell sehr unterschiedlich denken und die rationale Logik den kleinsten gemeinsamen Nenner der Gesellschaft darstellt. Was das angeht, sind die etablierten Wissenschaftler an den Universitäten mit ihrer Methodik deinen Wahrheitsbehauptungen gegenüber momentan leider noch klar im Vorteil.“

(12.) „Wie alle Verschwörungsideologien geht auch deine natürlich nicht von einer grundlegenden Gleichheit aller Menschen aus: Man gehört entweder zu ‚uns‘ oder zu ‚IHNEN‘. Sozial komplexe Beziehungsnetzwerke zwischen den ‚Seiten‘ kann es nicht geben. Denn wie könnte zum Beispiel einer von ‚IHNEN‘ eine Putzfrau haben, die eine von ‚uns‘ ist? Da aber ‚SIE‘, wie du sagst, nur wenige sind, ergo alle in Top-Positionen, und nicht Putzfrau, könnte es also durchaus sein, dass es bei ‚IHNEN‘ zuhause ganz schön schmutzig ist, was? Die Armen. – Eigentlich wäre es ganz normal und natürlich, dass man von diesem Punkt ausgehend, an dem du dich geistig befindest, Rassist und Antisemit wird. Bist du zufällig Rassist und Antisemit?“

(13.) „Wenn die angeblichen Verschwörer Menschen sind, werden sie älter und brauchen irgendwann Nachwuchs – eine neue Generation, an die sie den finsteren Zauberstab weitergeben können. Wie lösen ‚SIE‘ eigentlich ihr Rekrutierungsproblem? Mich haben ihre Headhunter jedenfalls noch nicht angesprochen, ob ich gerne in schwarzen Hubschraubern herumfliegen möchte – dabei fände ich das wirklich cool.“

(14.) „Sind das eigentlich Menschen, diese ‚SIE‘? ‚SIE‘ kommen mir so übermenschlich vor in ihrer angeblichen grenzenlosen Fähigkeit, alles, was auf Erden passiert, bis ins kleinste Detail zu kontrollieren und zu manipulieren – während ich selbst schon Schwierigkeiten habe, mir meine eigene Telefonnummer zu merken. Dabei sind ‚SIE‘ nicht einmal viele, oder – du sagtest doch, ‚SIE‘ sind eine kleine Gruppe? ‚DIE‘ müssen ja ganz schön große Köpfe haben – dafür gibt’s die Aluhüte bestimmt nicht mehr in Konfektionsgrößen. – Du sagst, du glaubst nicht an etwas Göttliches – dann ist es aber doch komisch, dass du diese ‚SIE‘ so schilderst, dass man den Eindruck bekommt, es handle sich bei ‚IHNEN‘ geradezu um Götter? – Könnte es dir vielleicht gut tun und helfen, mal wieder in die Kirche zu gehen? Sorry, war nur ein Scherz.“

(15.) „Sag mal, könnte es sein, dass du einfach nur an Verfolgungswahn, vulgo Paranoia, leidest? Es gibt dagegen heutzutage sehr gute Medikamente, manchmal kann man auch operieren. – Ach so, ‚DIE‘ würden dir bei der Gelegenheit dann bloß einen Chip ins Gehirn implantieren? Ja ja, ich verstehe… – aber vielleicht ist so ein Chip ja gar nicht so übel?“

Süßer Sirenen nie klingen

Zum heutigen Datum stiftet die allerheiligste Bundesregierung uns mit dem ersten bundesweiten Probealarm seit der Wiedervereinigung das neue Hochfest der „Parusieverzögerung des menschengemachten Weltfriedens“: den bundesweiten „Warntag“, der fortan jeden zweiten Donnerstag im September feierlich begangen werden soll. Willkommen zurück in der Wirklichkeit, die während der letzten dreißig Jahre in seliger Zeitlosigkeit pausiert hatte.

Nawalny

Wer Politik betreibt, indem er politische Gegner heimtückisch vergiftet – und wir sprechen hier von einem (wiederholten) Fall, in dem die Spezifität des Wirkstoffs zweifellos mit voller Absicht eine einschüchternde „Signatur“ des Täters hinterlassen sollte -, der liefert damit ein Paradebeispiel für die recht weitgehende Unabhängigkeit der Intelligenz vom eigentlichen Bewusstsein. Wie meine ich das? Um mit Gift politische Botschaften zu schreiben, muss man technisch intelligent sein; und je nach richtig eingeschätzten Umständen kann es sogar strategisch und politisch intelligent sein, vor solchen horrenden Handlungen nicht zurückzuschrecken – wie beispielsweise die Geschichte des byzantinischen Reiches oder der Renaissance machiavellistisch betrachtet lehrt. Aber an der Grenze der Zuständigkeitsbereiche von Technik, Strategie und Politik endet die so beschriebene Intelligenz.

Das bedeutet: Der Übergang von der „bloßen“ Intelligenz zum höheren Bewusstsein ist gekennzeichnet durch die Erkenntnis, dass die Zuständigkeitsbereiche von Technik, Strategie und Politik Grenzen haben und dass das „wahre Leben“ (und auch schon, etwas simpler, das „gute Leben“) über diese Bereiche hinaus in einem Zusammenhang einer weitaus größeren und umfassenderen Art von Logik und Vernunft steht.

Man könnte sich sogar entscheiden, den Geisteszustand jener, die das nicht zu begreifen in der Lage sind, gar nicht als „echte Intelligenz im vollen, wahren Sinne“ anerkennen zu wollen, sondern ihn lediglich als die eigenartige (Fehl-)Leistung von Persönlichkeiten einzuordnen, die gleichsam das Schachspiel aus einem Brett mit vierundsechzig Feldern hinaus verlagert haben ins „wirkliche Leben“, und die angesichts der sich dabei erweisenden partikulären Vorzüge und Vorteile dieser Zweckentfremdung ihrer Nischen-Meisterschaft das große Ganze der Verfehltheit und der schweren Defizite eines solchen unpassenden Transfers nicht erkennen.

Was das Opfer im aktuellen Fall angeht, so sprechen wir über einen Juristen und Finanzwissenschaftler, der sich seit Jahren auf fast manisch wirkende Weise Popularität verschafft, indem er mit waghalsigem Mut ein autokratisches Machtgefüge in seinem Land angreift, vor allem an dessen breitem Zipfel der Korruption. Der Mann, von dem wir sprechen, ist nie durch irgendeine andere Art von Wertorientierung aufgefallen als durch Nationalismus, der sich von dem des Ziels seiner Kritik wenig unterscheidet. Es kann und darf nicht darum gehen, das Opfer zu idealisieren. Denn das würde bedeuten, dass er deshalb zu bedauern und sein Schicksal deshalb zum Anlass der Empörung zu nehmen ist, weil er ein besondererer und besonders guter Mensch ist. Ganz ohne über seine Person zu urteilen, bleibt festzustellen, dass dies kein Kriterium bei der Beurteilung eines Falles dieser Art sein darf.

Wer Politik betreibt, indem er politische Gegner heimtückisch – und im aktuellen Beispiel noch dazu „exemplarisch“ – vergiftet, handelt letztendlich äußerst unklug, weil er damit in enorm schädigender Weise die Grundlagen der Humanität zerstört, auf der menschliche Gesellschaften beruhen. Er wird mit einer solchen Handlungsweise langfristig (und sehr wahrscheinlich bereits mittelfristig) seinem Volk und seinem Land, denen er möglicherweise dienen zu wollen erklärt (und welche Absichtserklärung er möglicherweise sogar selbst wirklich glaubt), ausschließlich schweren Schaden zufügen.

Aber es kann eben kein Mensch über den ihm zum jeweiligen Zeitpunkt gegebenen Grad an Bewusstsein hinaus verantwortlich handeln. Um echtes Bewusstsein handelt es sich bei der „partiellen“ Intelligenz von Giftmördern gewiss in keinem Fall.

Programmänderung!

Wie aufmerksame Leser gemerkt haben, hat mein Blog soeben (nicht zum ersten Mal) einen neuen Titel bekommen: Aus „Neue Christliche Werte NCW+“ wird hiermit „Was bleibt vom Christentum“. Ohne Fragezeichen!

Nach der perfekten General-Überschrift werde ich wohl noch weiterhin vergeblich suchen. Am bisherigen Namen des vorliegenden Projektes hat mich selbst schon von Anfang an gestört, dass „Werte“ eigentlich kein echter Begriff der christlichen Tradition ist; in der kirchlichen Theologie spricht man stattdessen, z.B. in der Moraltheologie, traditionell von „Gütern“ – was von vielen Heutigen allerdings ebenfalls vielfach missverstanden wird. Und das Wörtchen „neu“ steht ja hier auch eher in provokativer als in streng deskriptiver Funktion, und der Autor kann nicht wissen, ob die Provokation als der positive Reiz verstanden wird, als der sie gedacht war.

In den letzten Jahren neige ich allgemein dazu, meinen Arbeiten vergleichsweise tendenziell weniger raffinierte Titel zu geben. In diese Tendenz ordnet sich auch „Was bleibt vom Christentum“ ein.

Schauen wir mal, wie’s damit läuft.

„Idiocracy“?

In der vielversprechend konzipierten, wenn auch meines Erachtens nicht gerade meisterlich umgesetzten Kino-Komödie „Idiocracy“ (USA, 2006) wird ein mit dem IQ-Wert 100 „genau durchschnittlich“ intelligenter heutiger Mensch, ein US-Soldat, laut militärischem Versuchs-Plan für die Dauer eines Jahres eingefroren, dann aber verschlampt und vergessen und erwacht nach rund einem halben Jahrtausend wieder in einer Welt, in der er mit Abstand der Intelligenteste ist.

Kommentieren möchte ich an diesem für meinen Geschmack mehr interessanten als guten Film vor allem den Vorspann, der satirisch erklärt, wie es zu dem der Handlung zugrundeliegenden Verlauf der Menschheitsgeschichte gekommen sei: Da in der Hochzivilisation nicht mehr Darwins „survival of the fittest“ gilt, „belohnt“ die Evolution einer entsprechenden Spezies nur noch die schiere Zahl an Nachkommen; weil jedoch genau die Intelligenten infolge der Gedanken, die sie sich über das Kinderhaben machen, von projektiver Zweifel-Geplagtheit und Besorgtheit in ihrer Familienplanung gebremst und gehemmt werden, wächst der Gesellschaftsanteil an „fruchtbaren“ Dummen kontinuierlich an – was zu einem unaufhaltsamen Rückgang der durchschnittlichen Intelligenz führt, mit der Folge jener dystopischen Science-Fiction-Welt, auf welcher der Filmplot basiert.

Schauen wir uns diese humoristisch präsentierte Argumentation einmal mit aller gebotenen Ernsthaftigkeit genauer an.

Das evolutionsbiologische Konzept „survival of the fittest“ kann sich auf die unterschiedlichsten Merkmale beziehen, je nachdem, auf welche Stärken eine Spezies in Abhängigkeit von ihren ökologischen Nischen „setzt“. Wenn postuliert wird, in einer „Über“-Zivilisation (wie angeblich unserer heutigen) sei die entsprechende „gesunde Selektion“ außer Kraft gesetzt, so ist echt wissenschaftlich zunächst sofort die Gegenfrage zu stellen, welche „Fitness“-Kriterien denn der Vertreter dieser Hypothese überhaupt in Betracht gezogen hat, und ob die von ihm abgefragte Auswahl solcher Kriterien die kreative Vielzahl der evolutions-ökologischen Möglichkeiten zu „sinnvollen mutativen Investitionen“, die die Art erhalten, hinreichend abbildet. Mit dieser Frage will ich hier nicht weiter in die Details gehen.

Außerdem ist eine geschichtliche Betrachtung anzustellen, deren Vektor sich bis zu einem gewissen Grad unschwer in die Zukunft hinein verlängern lässt: Schon der erste römische Kaiser Augustus fühlte sich kurz vor Beginn unserer Zeitrechnung bemüßigt, durch mehrere Gesetzeserlasse, die erkennbar vor allem auf die damalige römische Oberschicht zielten, wie die „Lex Papia Poppaea“, die zölibatär Lebende explizit rechtlich benachteiligte, oder das „Ius trium liberorum“, das Familien mit mindestens drei Kindern bevorteilte, genau dasselbe Problem zu regeln, mit dem der im Vorliegenden zu besprechende Film sein Sujet unterbaut. Das historische augusteische Zeitalter mit seinen Nachwuchssorgen ist inzwischen gut zweitausend Jahre her – trotzdem hat die Intelligenz der Menschheit seit damals nicht erkennbar abgenommen.

Wenn man diese Beobachtung in unsere echte Zukunft hinein weiterdenkt, muss man feststellen, dass es zu einem Szenario wie dem im Film erfundenen real niemals kommen kann, weil bei einem Nachlassen des allgemeinen Intelligenz-Durchschnitts um nur zwei oder drei IQ-Punkte bereits innerhalb weniger Jahrzehnte der gesamte Betrieb unserer heutigen sensiblen zivilisatorischen Einrichtungen ins Wanken geraten würde; denn mindestens Personen, die sich auf das „Bug-Fixing“ in unserer Elektronik verstehen, müssen immer „engmaschig“ in erklecklicher Zahl vorhanden sein; Existenzen, die sich geistig sozusagen knapp oberhalb der Vegetationsgrenze bewegen, können das dabei Erforderliche nicht leisten.

Schließlich ist auf die „Epigenetik“ hinzuweisen. Deren Konzeptionsansatz – dass über unser physisches Schicksal nämlich nicht Gene allein entscheiden, sondern zusätzlich diverse nicht aus DNA bestehende Faktoren, die ein Gen aktivieren und es damit zur Auswirkung bringen, oder aber es „stummschalten“ – lässt sich philosophisch und spirituell auch noch in Richtungen ausweiten, in die einem strenge Biologen freilich nicht folgen werden. Intelligenz gilt derzeitigen Naturwissenschaftlern als sehr weitgehend genetisch disponiert und kaum durch andere Umstände beeinflussbar. Aber angesichts der weiterhin andauernden sehr dynamischen Entdeckungen auf dem Gebiet der Epigenetik darf man durchaus in Frage stellen, ob in Sachen Intelligenz auf streng empirischer Ebene wirklich schon das letzte Wort gesprochen wurde – von anderen, weniger streng empirisch belegbaren, aber vielleicht dennoch wirklichkeitsmächtigen Ebenen ganz zu schweigen.

Spirituelle Lehrer wissen es seit jeher mit großer Klarheit: Der wichtigste Lehrer im Leben eines Menschen ist das Leiden. Dieser Lehrer vermag Menschen Ungeheures zu lehren. Leiden ist nicht genetisch, Leiden wird gelernt – so seltsam das klingt. Leiden wird gelernt, weil es einen Sinn hat; und Leiden kann jeder lernen. Nur die Erlösung, die nach dem Leiden kommt und Leidensfähigkeit voraussetzt, folgt anderen Gesetzen. Dass unsere Zivilisation das Leidenspotenzial des Lebens abschafft, diese Hoffnung sollte sich in den letzten Jahrzehnten hinreichend als illusorisch erwiesen haben.

Weshalb für die Menschheit eine andere, bessere, sinnvollere Hoffnung durchaus besteht.

***

Es ist ja wahr: Wir erleiden seit langem eine mutwillige Verblödungswelle. Alles muss „for dummies“ formuliert werden. Medienredaktionen jeglicher Couleur lehnen spätestens etwa seit den Achtzigerjahren schon großzügig alles ab, was sie für ihr gemutmaßtes Publikum, ihre Zielgruppe, auch nur ansatzweise als zu anspruchsvoll erachten. „Bologna“-prozess-konforme Schulbildung, die Einheits-Lern-Bolognese-Soße der vergangenen (womöglich auch verlorenen) zwanzig Jahre, möchte Schülern aller Schularten nur noch die „Kompetenz“ vermitteln zu wissen, auf welchen Wegen man sich Kenntnisse zu diesem oder jenem Gebiet verschaffen müsste, wenn man sich darauf denn näher auskennen wollte. Man bekommt, nur leicht überspitzt gesagt, die „Eins“ in Mathematik nicht länger dafür, dass man eine Berechnung unter Anwendung des Satzes des Pythagoras selbständig richtig ausführen kann, sondern dafür, dass man in einem Multiple-Choice-Test auf die Frage, ob der Satz des Pythagoras etwas mit Betriebswirtschaftslehre, Mathematik, Fußballregeln oder Medizinethik zu tun habe, die richtige Antwort ankreuzen kann – denn wenn man das weiß, dann könnte man ja theoretisch nähere Erklärungen zu diesem Satz später bei Bedarf sachgerecht in einem Mathematikbuch suchen. Der Film „Idiocracy“ wäre in keinerlei Hinsicht der Rede wert, wenn er nicht thematisch präzis eine Narbe geißeln würde, die unseren „westlichen“ Gesellschaften schon seit langem weh tut, über welchem Schmerz wir aber schon seit Jahrzehnten die Lippen steif halten. Eine Kehrtwende steht allerdings nun, wie ich zu prophezeien wage, in nicht mehr allzu großer zeitlicher Ferne bevor. In der Covid-Krise z.B. hörten Anfang 2020 plötzlich ungeahnte Massen stundenlang einem Professor Drosten zu, dem man zutraut, durch die bloße wissenschaftliche Staubtrockenheit seiner Ausführungen das Coronavirus an Verdursten sterben zu lassen. Auf die an solchen Anzeichen zu erahnende Wende hin ist auch der vorliegende Blog in seinem unverdrossenen Mut zum Anspruch geschrieben.

Discretio Amazonia

Antonio Spadaro SJ, der Direktor von „La Civiltà Cattolica“, hat in seinem Medium heute einen langen Beitrag veröffentlicht, in dem er Einblicke ins Geistesleben seines Ordensbruders Papst Franziskus präsentiert, die er offenbar von diesem aus erster Hand erhalten hat.

Der Papst lässt durchblicken, dass er, gut ignatianisch, bei der Leitung der Kirche vor allem „discretio spirituum“ am Werk sehen will, „Unterscheidung der Geister“ („diakrís(e)is pneumáton“, 1Kor 12,10).

Die Amazonas-Synode habe sich in ihrer Dynamik zu sehr den Mechanismen der säkularen Demokratie angeglichen; daher habe er, Franziskus, dem Mehrheitsvotum der Bischöfe für die regionale Priesterweihe verheirateter Diakone nicht zustimmen können.

Selbst wenn die Hardliner in der Minderheit sind, ist eine Kirchenspaltung nicht hinnehmbar, wie sie in der Luft gelegen hätte, wenn Franziskus das synodale „Plebiszit“ durchgewinkt hätte. Einverstanden, das ist ein gutes, starkes Argument.

Das säkulare Modell der Demokratie ist für den Staat da – ansonsten erst mal für gar nichts anderes. Für den vergleichsweise ganz andersartigen und viel stabileren Geist der Einheit, der der „discretio“ entspringt, steht die römisch-katholische Kirche: „Ut omnes unum sint“, Joh 17,21. So weit, so gut.

Allerdings sind es gerade die Hardliner, die diese klassisch-vatikanische Argumentationsstruktur mindestens über die letzten Jahrzehnte hinweg in vielerlei Hinsicht sehr weltlich-politisch ausgenutzt und auch regelrecht missbraucht haben, man kann es nicht schonender sagen. Auch „an sich“ richtige Argumentationen werden durch diese Art ihres Missbrauchs desavouiert; und so sind diejenigen, die ihre Macht durch dreisten Argumentationsmissbrauch ausgesprochen schlecht verantworten, als letztendlich verantwortlich dafür zu bezeichnen, dass wegen der Infamie dieser „Kontamination“ (schwäbisch-verharmlosend „Gschmäckle“) ihre ohnmächtigen Gegenüber in den Tiefen der Laienbasis im römisch-katholischen „Unten“ irgendwann auch einige der tragendsten Denkmodelle jener Einheit, nach deren Bewahrung alle Beteiligten „eigentlich“ glaubhaft streben, nicht länger unterstützen mögen.

Ein positives Zeichen ist ja schon, dass der Papst sich überhaupt rechtfertigt, was er ja der internen Kultur seiner Kirche zufolge überhaupt nicht müsste. Andererseits: Warum kam seine bedeutsame Erläuterung zu „Querida Amazonia“ nicht „gleich“ und nicht direkt, sondern erst jetzt und via Spadaro?

Nun ja.

#TheoBloggerInnen

Heute war das dritte Netzwerk-Treffen für theologische Blogger*innen der Evangelischen Akademie im Rheinland (#TheoBloggerInnen), an dem ich zum ersten Mal teilnehmen konnte, denn im Unterschied zu den vorangegangenen Jahren fand es wegen Covid als Videokonferenz statt.

Live-Treffen sind super und tun gerade Online-Arbeitern gut – trotzdem sollte parallel dazu das virtuelle Format bitte unbedingt beibehalten werden; denn viele Zielgrüppler werden, so wie ich, oft nur auf diese Weise überhaupt teilnehmen können.

Erheblichen Anteil am Inhalt hatte die Frage, wie sich die Theologie in den digitalen Sozialen Medien verändert. Theologie als reiner „Top-Down“-Prozess, bei dem das kirchliche Amt und die formal-akademische Theologie „Top“ sind – das ist in seiner herkömmlichen Form passé, da waren sich alle einig.

Ich brachte angesichts dessen allerdings die Frage nach der theologischen Qualitätskontrolle auf, und diese Frage stieß auf sehr viel Resonanz.

Gravitationszentrum unseres Bloggens ist die Pilatus-Frage (Joh 18,38), so würde ich es sagen. Das sehen zwar nicht alle so, aber doch die Meisten – und nicht nur die Konservativen.

Im Gespräch zwischen @KlausKuenhaupt (Pfarrer in Merzig, Saarland) und mir entwickelte sich, nachdem ich Theologen mit Ingenieuren verglichen hatte, die Metapher: „Wenn der Ingenieur am Ende mutterseelenallein auf der perfekten Brücke steht, die er gebaut hat, dann sollte er wohl anfangen, sich eine ganz andere und neue Art von Fragen zu stellen.“

Hagia Sophia

Die Hagia Sophia ist nach 85 Jahren als Museum wieder eine Moschee. „Jetzt zehrt Erdogan die populistischen Notgroschen auf“, schrieb der prominente Journalist Deniz Yücel am 10.07.2020 in der „WELT“. Treffender kann man die politische Seite des Vorgangs kaum auf den Punkt bringen.

Mit dieser Feststellung allein aber lässt sich die Klärung der Sache geistig noch nicht befriedigend erledigen. Der Fall Hagia Sophia wirft die Frage auf, ob und inwieweit sich Religiöses und Politisches überhaupt voneinander trennen lassen. Dass diese Frage schon mehrfach in der Kulturgeschichte gestellt wurde, dürfte bekannt sein. Sie bleibt schwierig.

Denn wer jetzt einseitig erklärt, die Causa Hagia Sophia müsse man ganz klar in erster Linie politisch einordnen, fährt in Wirklichkeit gar keine gültigen Argumente gegen ihre Funktion als Moschee auf, weil er die religiöse Dimension und Argumentationsebene im Grunde schlicht ignoriert, weil er sie nicht wirklich ernst nimmt.

Die Hagia Sophia wurde zu dem doppelten Zweck erbaut, die Macht des oströmischen Kaisers Justinian zu symbolisieren, und zugleich durch „überirdische“ Architektur die Herzen der in diesem Raum Liturgie Feiernden zu Gott zu erheben. Zu Justinians Zeit war es völlig unüblich, zwischen diesen beiden Zielsetzungen einer sakralen Architektur akademisch zu unterscheiden. Anders als ein überwiegender Teil des Christentums hat der Islam diese kulturgeschichtlich ursprüngliche Nicht-Trennung zwischen Staats- und Religions-Institutionen ungebrochen weiterpraktiziert.

Es ist unangemessen, so zu urteilen, als könnte sich ein heutiger Muslim nicht auf einer religiös ernstzunehmenden Bewusstseinsebene darüber freuen, im Innenraum der Hagia Sophia sein Gebet verrichten zu können – so, wie es Christen dort ein knappes Jahrtausend lang taten, und wie es danach übrigens auch Muslime in diesem Raum bereits einmal für ein knappes halbes Jahrtausend getan haben. Ein Streit darüber, ob – zumal „vor demselben Einen Gott“! – ein knappes Jahrtausend, das schon länger her ist, mehr gelten soll als ein knappes halbes Jahrtausend, das kürzer her ist, wäre ein Streit auf demselben kümmerlichen Niveau, auf dem Erdogan Politik macht.

Ich bin grundsätzlich dagegen, dass sakrale Räume zu Museen werden, und ich will erklären warum. Jede Umwandlung eines Sakralraumes in ein Museum ist eo ipso eine positivistische Infamie gegen den Geist des Religiösen, ohne dessen Authentizität all diese Räume schlicht bedeutungslos sind – egal wie hübsch ihre Architektur und Innenausstattung sein mag.

Ich bin überzeugt, dass wir noch gar nicht alle einzelnen Anwendungsbereiche des berühmten „Böckenförde-Diktums“ angemessen erfasst haben: Nicht nur „der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“, sondern beispielsweise auch für politische Parteipositionen und Parteiprogramme gilt dieselbe Doktrin. Das ist eine Ebene, auf der die Trennung von Religion und Politik niemals möglich ist. Wohlweislich lautet darum das zu begrüßende Prinzip, das in Deutschland und einigen anderen Ländern praktiziert wird, „Trennung von Kirche und Staat“: Nur diese lässt sich nämlich garantieren – die Trennung von „Religion und Politik“ hingegen nicht.

Zweifellos ist Erdogans Vorgehen Politik auf niedrigstem Niveau. Und zweifellos täte es der modernen Türkei gut, nicht von ihrer bisherigen Trennung zwischen politischen und religiösen Institutionen abzufallen. Das kann man kritisieren und das sollte man kritisieren – ganz besonders am Beispiel Hagia Sophia.

Dass in diesem überragend bedeutsamen Sakralraum endlich wieder öffentlich gebetet wird, das kann ich hingegen grundsätzlich nur begrüßen. Religionen – egal welche! – gehören nicht ins Museum.

Viel Lärm um Aleida Assmann

Der aktuelle Assmann-(Mbembe-)Streit trägt für mich den deutlichen Zug eines Indizes, dass auch bislang als seriös bekannte Gesellschaftswissenschaftler nun zunehmend der allgemeinen Tendenz der gegenwärtigen soziokulturellen Dynamiken erliegen, alle (ehedem) sachlichen Urteilsstandpunkte in emotional und ideologisch hoch aufgeladene persönliche Identifikatoren umzuformen.

Warum denn sollen Nichtjuden überhaupt keine Meinung zu jüdischen Belangen öffentlich äußern dürfen? Warum denn soll Kritik am Staat Israel, die strukturell der Kritik an der Politik anderer Staaten vergleichbar ist, grundsätzlich nicht von Antisemitismus unterschieden werden dürfen? Diese implizit und manchmal sogar explizit geäußerten Forderungen sind unbefangen besehen absurd, und das Irritierende daran, dass sie von manchen akademisch Geschulten heute überhaupt aufgestellt und vertreten werden, lässt meines Erachtens nur eine Erklärung zu: Höchstpersönliche gedankliche Identitätssuche überlagert inzwischen in krassem Maße ubiquitär alles andere – gelegentlich sogar die berufsakademische Selbstverpflichtung auf wissenschaftliches Objektivitätsbemühen und die nüchterne Vernunft derer, die in dieser Vernunft formell qualifiziert sind.

Was man relativieren muss, taugt nicht mehr als Panier. Zuordnungen, die man differenzieren muss, erlauben keine befriedigenden Feindbilder mehr. Auch das Milieu der berufsmäßigen Intellektuellen ist inzwischen in erschreckendem Ausmaß von diesem polemischen Wahn ergriffen. Das ist zwar kein noch-nie-dagewesenes Phänomen – aber immer, wenn es geschichtlich auftrat, war es ein Vorbote schwerster globaler Mehr-Ebenen-Krisen.

Ich möchte nicht einzelne Formulierungen im momentanen Gelehrtenstreit um die Äußerungen von (zentral) Aleida Assmann bekritteln – bei denen es manchmal offenkundig von nichts anderem mehr als vom individuellen Wohl- oder Übelwollen abhängt, ob man darin „Antisemitismus“ findet oder nicht -, sondern ich möchte das große Ganze des Problems im Blick behalten, das sich mit und hinter dieser Debatte verrät.

Ein traditionelles und, was besonders bemerkenswert ist, auch nach dem Holocaust nicht ersticktes Charakteristikum der jüdischen Geisteswelt, das mich schon immer sehr angesprochen hat, wird skizziert durch das einigermaßen bekannte Bonmot, es sei schon ein Staunen wert, dass das Judentum ein so konkret greifbares kulturelles Phänomen sei, obwohl es doch „schwer sei, zwei Juden zu finden, die über irgendeinen Gegenstand derselben Meinung sind“. In nichts drückt sich für mich vortrefflicher eine echte souveräne Identität aus. Die gesamte geistige Hefe der derzeitigen erhitzten Debatte um Frau Assmann et al. ist von dieser Qualität leider Welten entfernt.

Innerhalb wie außerhalb der jüdischen Welt gleichermaßen scheint es derzeit eine beträchtliche Anzahl öffentlich-medialer Debattenteilnehmer zu geben, deren Haltungen und kommunikative Verhaltensweisen des Reflexionsimpulses, den ich hiermit zu geben mir erlaube, dringend bedürfen.

Freilich ist für mich klar: Wer noch nie auch nur probativ zu dem innerlichen Punkt vorgedrungen ist, seine wahre Identität in einer ganz anderen Seins-Dimension zu suchen als in der jeglicher Gedanken und Meinungen, welchen Inhalts auch immer, wird kaum in der Lage sein, diesen meinen Reflexionsimpuls ergiebig zu rezipieren. Damit kommt wiederum die Spiritualität ins Spiel – die natürlicherweise kein Gegenstand des wissenschaftlichen Bewusstseinshorizonts als solchen ist.

Sondern die bestenfalls Teil des persönlichen Horizonts einzelner Wissenschaftler werden kann. Dass letzterer Fall an Häufigkeit kontinuierlich zunimmt, bleibt zu hoffen.

Fronleichnam – nicht immer; Gastein – überall

„Heute“ vor genau 140 Jahren malte Adolph von Menzel die Fronleichnamsprozession in Hofgastein. Das Bild ist eines der großen Meisterwerke der Malerei, es befindet sich in der Münchner Neuen Pinakothek, wo es mich schon als vielleicht zehnjähriges Kind kulturbeflissener Eltern immer wieder besonders ansprach.

Der Name „Bad Gastein“ ist zweifellos bekannter als „Hofgastein“. Hofgastein ist der alte Ort im Salzburger Pongau. Durch und um die ihm nahegelegenen Heilquellen entwickelte sich seit dem sechzehnten Jahrhundert ein therapeutischer Badebetrieb, der im neunzehnten Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte und seitdem immer stärker mit dem traditionellen dörflichen Leben Hofgasteins in ein soziales Spannungsverhältnis zu treten begann. Das internationale städtische Kur-Publikum des vorgerückten neunzehnten Jahrhunderts warf auf das lebendige katholische Brauchtum der Pongauer jene wenig respektvolle, amüsierte Art von Blick, mit der man „Folklore“ betrachtet, einen Blick, der ein beträchtliches Verletzungspotential enthält gegenüber allem, was sich nicht selbst leichthin als „bloßes Brauchtum um des Brauchtums willen“ verstehen möchte.

Das im dreizehnten Jahrhundert erfundene Fronleichnamsfest ist als Zelebration der Transsubstantiationslehre das „Ideenfest“ par excellence, eine doktrinär gesteigert aufgeladene Selbstverklärung der hochscholastischen Sakramententheologie. Ausgerechnet diese extreme theologische Abstraktion wurde im neunzehnten Jahrhundert zum Kristallisationspunkt der konfessionellen Selbstidentifikation eines unakademischen religiösen Milieus – und ein frühmodernes großbürgerliches Milieu, das sich der Begrenztheit seines eigenen kulturellen Horizontes nicht bewusst war, welcher sich bei Menzel symbolisch in der bräsigen Leibeswohlergehens-Zentriertheit affluenz-behäbig inszenierten Thermalbadens erschöpft, machte sich in der felsenfesten Überzeugung seiner inkommensurablen Überlegenheit über die vermeintlich rückständige „ländlich-bäuerliche Aberglaubens-Kultur“ lustig, ohne objektiv betrachtet genügend Grund zu solchem Dünkel zu haben.

Genau diese subtile Wahrnehmung fängt Menzels bahnbrechender Realismus in dem Gemälde von 1880 bildhaft ein: Von links oben aus dem Hintergrund kehrt die Fronleichnamsprozession zur Dorfkirche zurück; auf halber Höhe des Bildes biegt sie zum Gotteshaus hin ab, dessen Eingang am rechten Rand zu erkennen ist; knapp links der Bildmitte trägt der Priester die Monstranz unterm Baldachin; er hat sie aber nicht allzu hoch erhoben, sondern beugt sich fast eher wie schützend über sie; während vor ihm schon einer der reich geschmückten Fahnenträger den Flaggenstock gesenkt hat, um durch den Torbogen des Kirchhofsgatters eintreten zu können. Im Vordergrund rechts ist die Gruppe der als Gäste zur Kur weilenden „Kosmopoliten“ zu studieren, die das Ereignis sichtlich ohne jede seriöse Anteilnahme wie ein seichtes Unterhaltungsangebot in der Langeweile ihres Genesungsaufenthaltes (aufgrund welcher mehr oder weniger eingebildeten Leiden auch immer) registrieren; mindestens eine dieser Personen quittiert das Schauspiel sogar mit einem Gesichtsausdruck unverkennbaren Hohns und mit einer ostentativ flegelhaften Haltung; dieser dandyhafte Mann, in seinem schönen hellbraunen Sommeranzug gleichsam ungebührlich die rechte Bildmitte okkupierend, ist zudem die einzige Gestalt, die den Maler direkt anblickt, indem er sich vom soeben relativ dicht an ihm vorbeigetragenen Sakrament in provokativem Desinteresse abwendet.

Neben ihm steht nur noch ein weiterer Repräsentant der Zugereisten näher am religiösen Geschehen; dieser, etwa gleichen mittleren Alters wie der Vorige, in einen hellen grauen Anzug gekleidet, wendet sich zwar in einer würdevollen Gebärde kühler Höflichkeit dem vorüberschreitenden und ohne eine Aura frischer Leichtigkeit, wohl erschöpft, soeben einige Stufen des Kirchhügels erklimmenden Priester zu – aber auch der Blick dieses „diplomatischeren“ distanzierten Zeugen richtet sich nicht auf die in den Händen des Geistlichen ausgestellte Hostie, sondern der Kopf dieses Besuchers ist zur Seite gewendet und betrachtet etwas, das sich gleichzeitig im linken Vordergrund des Bildes darbietet.

Dort nämlich sieht man, für den Bildbetrachter in Rückenansicht, zwei trotz ihrer Zerlumptheit an den dürftigen Rudimenten ihrer Bauerntracht als einheimisch erkennbare Männer, einen alten und einen jungen, vielleicht Vater und Sohn, der Ältere auf Krücken mit einem schwer untüchtigen, verbundenen Fuß, der Junge trotz des hohen Feiertages barfuß vor dem Allerheiligsten kniend – zu offensichtlich ist, dass er keine Schuhe besitzt, geschweige denn einen Festtagsrock. Der im grauen Anzug ist gewillt, dem ihm fremden Kult mit einigem echt aufmerksamem Wohlwollen beizuwohnen – aber der ihm nicht entgehende Anblick der marginalisierten Armut am Rande des Prozessionsweges lenkt ihn ab, und die stille Empörung kann in ihm nicht fern sein darüber, dass hier zwei, denen es offenbar um ihren Gottesglauben ernst ist, sich aufgrund des Stigmas ihrer materiellen Bedürftigkeit vom Rest ihrer frommen Gemeinde wie Aussätzige absondern zu müssen meinen, was die drängende Frage aufwirft, ob diese unglückliche Familie ihr separatives Verhalten aus reiner schamerfüllter Subjektivität an den Tag legt, oder ob nicht die stolze katholische Bauerngemeinde womöglich sehr wenig dazutut, diese Armen vom Gefühl ihrer krassen Ausgeschlossenheit zu entlasten.

Für mich ist und bleibt Menzels „Fronleichnamsprozession in Hofgastein“ ein aufwühlendes Bild, das ein ganzes Panorama an Kontroversen zwischen verschiedenen Perspektiven auf ein dem ersten täuschenden Blick problemlos-frühsommerheiter erscheinendes Geschehen meisterhaft bündelt. Der längst berühmte Maler der Hofgasteiner Szene von 1880 war ein zu diesem Zeitpunkt bereits fünfundsechzigjähriger, durch und durch von preußischen Idealen bestimmter Protestant, der nie zuvor mit einem ähnlichen Thema an die Öffentlichkeit getreten war. Virtuos unaufdringlich-eindringlich prangert er in seinem Bild die Unmenschlichkeit eines starren Ritualismus ebenso an wie die unerträglich blasierte Ignoranz all jener, die, auf wackeliger Grundlage welcher ideologischen Rationalisierungen auch immer, alle „gleichermaßen schnell fertig sind mit dem Geheimnis Gottes“, wie Tomáš Halík es einmal (am Anfang seines erfolgreichsten Buches) treffend formuliert hat. Menzels Bild erinnert uns daran, dass die Probleme, die die traditionelle christliche Kirchlichkeit in unserer eigenen Zeit am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts endgültig zu pulverisieren scheinen, bereits vor anderthalb Jahrhunderten erkennbar begonnen haben – und dass schon damals ein beobachtungsgeübtes Auge erkennen konnte, dass wesentliche Ursachen dafür von beiden Seiten beigesteuert wurden, von der kirchlichen wie von der weltlich-kulturellen Seite gleichermaßen.

Man kann nur hoffen, dass der Branca-Bau der Neuen Pinakothek, der derzeit aufwändig renoviert wird, bald wieder viele Menschen zur Meditation vor Kunstwerken wie diesem einladen möge, die uns typischerweise im Spiegel des geschichtlich radikal kontingenten Miniaturhaften, das sie vorführen, überraschende und berührende Einsichten in unser eigenes gegenwärtiges menschliches und gesellschaftliches Dasein zu eröffnen vermögen.

Pest und Mystik

Der prominente tschechische Theologe Tomáš Halík hat in seinem Statement zur Corona-Krise („Christentum in Zeiten der Krankheit“) erwähnt, wie der spätmittelalterliche Quantensprung der Mystik durch das Abendländische Schisma zwischen den römischen und den avignonesischen Päpsten (1378-1417) katalysiert wurde: Die beiden Päpste belegten die Anhängerschaften des jeweils anderen mit dem Interdikt, dem Verbot gottesdienstlicher Handlungen als Strafe für Verstöße gegen das Kirchenrecht; infolgedessen fanden damals europaweit vielerorts keine Gottesdienste mehr statt – und dies wiederum zog eine beträchtlich dynamisierte Entwicklung der christlichen Mystik als einer verinnerlichteren Form der Gottesbeziehung nach sich.

Halík verwendet diese historische Reminiszenz mit Blick auf die hygienischen Kirchensperrungen des Frühjahrs 2020 als ein Zeichen für die besonderen Chancen der Mystik in Zeiten eines zurückgedrängten Formalismus der Religion. So sehr mich dieser Gedanke spontan anspricht, muss man doch noch einmal genauer hinter Halíks Argument blicken:

Das späte vierzehnte Jahrhundert war die düstere Epoche einer mindestens doppelten europaweiten Katastrophe, von der das Abendländische Schisma nur die eine, reiner kulturelle Hälfte bildete. In der Folge des Jahres 1347 hatte die große Pest, der „Schwarze Tod“, möglicherweise fast die Hälfte der gesamten europäischen Bevölkerung dahingerafft – ein vermutlich auch innerhalb einer spezifischen Weltgeschichte der Pandemien beispielloses Ereignis.

Dem Historiker muss ins Auge stechen, wie Halík als Illustration eines Manifestes, das die Gegenwart der Corona-Krise thematisiert, das vierzehnte Jahrhundert evoziert, ohne dabei dessen am meisten gestaltgebendes Hyper-Ereignis der Pest in den Blick zu fassen, obwohl dieses sich dem Epochen-Vergleich doch mehr als anzubieten scheint. Das wirkt geradezu wie eine Ellipse oder Aposiopese.

Wir können das Wesen der verschiedenen möglichen tieferen Zusammenhänge zwischen der Pest von 1347 und dem dreißig Jahre späteren Abendländischen Schisma nicht zuversichtlich behaupten. Vermutlich ist es kein Zufall, dass die zweite Pest-Generation mit der schon seit 1309 bestehenden avignonesischen Herausforderung des Papsttums weniger diplomatisch subtil und geschickt umging als zuvor, wo man ein entsprechendes Schisma zunächst trotz aller Probleme fast siebzig Jahre lang noch vermieden hatte. Es ist nicht abwegig, die vergleichsweise unbeherrschteren Konfrontationen von 1378 auf einen allgemeinen Kulturwandel zum Gröberen zurückzuführen, der seinerseits wiederum auf vielfältigen Wegen den Folgen der Pest zuzuschreiben ist (z.B.: „durchschnittlich jüngere und weniger selektierte Verantwortungsträger, da sozusagen nur noch eine halb so große Grundgesamtheit als Grundlage für die Personalauswahl vorhanden“ – ich verweise hierzu auf das Buch von David Herlihy „The Black Death and the Transformation of the West“, 1997). Streng wissenschaftlich betrachtet bleiben solche Zusammenhänge jedoch allesamt Spekulation.

Diese Überlegung kann trotzdem für die Gegenwart und ihre Auseinandersetzung mit Halíks Impuls als fruchtbare Denkanregung dienen: Möglicherweise gibt es gar keine direkte, „simple“ Verbindung zwischen einer Pandemieerfahrung und einer Blüte der Mystik – wohl aber eine Verkettung über ein Zwischenglied, nämlich über die komplexen soziokulturellen Folgen einer Pandemie.

Weshalb könnte diese Überlegung für uns wichtig sein? Wer, wie ich und viele andere, hoffnungsvoll erwartet, dass die Menschen „nach Corona unmittelbar (wieder) spiritueller“ werden, riskiert möglicherweise aufgrund Naivität eine unnötige Frustration – oder auch ein wirkungsloses vorschnelles „Verschießen seines intellektuellen Pulvers“: Es kann nämlich sein, dass aufgrund der Corona-Krise zwar sehr wohl eine neue Stunde der Spiritualität (und insbesondere eine neue Stunde der Mystik in der Spiritualität) schlägt – aber vielleicht erst in fünf oder zehn Jahren, wenn die besagten eigentlich soziokulturellen Folgen sich zu entfalten beginnen, die sich bedeutend langsamer fortpflanzen als Viren – sogar noch langsamer als die globalökonomischen Domino-Effekte von Shutdowns und Lockdowns.

Dass es ganze dreißig Jahre werden könnten (wie hypothetisch-symbolisch zwischen 1347 und 1378), das erwarte ich persönlich dann allerdings doch eher nicht.

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